Vanessa Materla

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Asow-Stahlwerk in Mariupol: "Mit Tränen gewinnen wir keine Kriege"

Auf den Bildern, die Kateryna Prokopenkos Mann ihr aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol geschickt hat, ist ein Soldat mit struppigem Bart zu sehen, dessen Augen tief in den Höhlen sitzen. "Ich kann richtig spüren, wie es ihm von Tag zu Tag schlechter geht", sagt Kateryna Prokopenko, 27. "Lange werden sie es nicht mehr aushalten."

Kateryna Prokopenko sitzt zusammen mit drei anderen Frauen an einem großen Holztisch in einer lichtdurchfluteten Wohnung in Krakau vor einem Laptop. In ihren Gedanken sind sie in den dunkeln Bunkern im Asow-Stahlwerk in Mariupol. Dort, wo ihre Männer seit vielen Wochen ausharren und versuchen, gegen den russischen Angriff auf die Stadt Widerstand zu leisten. Am Montag habe sie kurz mit ihrem Mann Denys Prokopenko telefonieren können, sagt Kateryna Prokopenko. "Denys ist sich sicher, dass die Russen bald versuchen werden, das Stahlwerk einzunehmen", sagt sie. Er ist Oberstleutnant des Asow-Regiments. Seine Aufgabe sei es, die Kampfmoral in der Truppe hochzuhalten. Kateryna Prokopenko beschreibt ihren Mann als optimistisch und lebensfroh - andere zu motivieren, falle ihm nicht schwer. Doch jetzt merke sie, dass es auch mit seinen Kräften zu Ende geht.

Das Asow-Stahlwerk ist die letzte Stellung des ukrainischen Militärs in . Den Rest der Stadt haben russische Truppen nach Angaben des ukrainischen Generalstabs eingenommen, auch das Stahlwerk sei weitestgehend eingekesselt. Dass dort noch Widerstand geleistet wird, verbucht die Ukraine als großen Erfolg. Die etwa 1.000 Soldaten, die sich dort nach ukrainischen Angaben noch verschanzt haben - und zu denen auch die Männer von Kateryna Prokopenko, Yulia Fedosiuk, Olga Andrianova und Anna Naumenko gehören -, werden von der Bevölkerung und dem Präsidenten als Helden gefeiert. Doch die Bedingungen werden immer schwieriger: Mittlerweile ist es nicht mehr möglich, Lebensmittel, Wasser und Medikamente auf das Gelände zu schleusen; die Vorräte gehen schnell zur Neige. Meistens würden sie Industriewasser trinken, erzählt Anna Naumenko aus den Gesprächen mit ihrem Mann. Zu essen hätten sie noch verschimmeltes Brot und Reis, den sie in einer Kaffeemühle zu Mehl und dann zu Pfannkuchen verarbeiten würden. Für die Verwundeten gebe es nichts, um die Verletzungen zu behandeln, auch keine Schmerzmittel. Also sterben sie langsam und qualvoll.

Am vergangenen Samstag wurden Hunderte Zivilisten, die im Stahlwerk Schutz gesucht hatten, herausgebracht. Doch es sollen sich noch immer verwundete Soldaten und Angehörige von Militärs auf dem Gelände befinden. Yulia Fedosiuk bekam am Tag nach der Evakuierung eine Nachricht von ihrem Mann Arseniy, aus der sie vorliest: "Fast alle Zivilisten sind raus. Die Verletzten lassen die Russen aber nicht gehen. Sich gefangenen nehmen zu lassen, ist keine Alternative. Viele werden einfach erschossen." Die Nachricht stimmt mit dem überein, was verschiedene Nachrichtenagenturen seit Anfang der Woche melden: Zwar wurden viele Frauen, Alte und Kinder aus dem befreit - doch einige sind zurückgeblieben. Yulia Fedosiuk glaubt, dass es sich dabei um die Familienmitglieder der Militärs handelt: "Sie haben gesehen, was in Butscha passiert ist. Sie haben Angst, als Geiseln genommen zu werden. Dass die Russen sie erschießen oder vergewaltigen. Ich wäre auch nicht mitgegangen."

Wie gehen die Frauen damit um, dass ihre Männer eingeschlossen sind - und sie in Sicherheit in Krakau?

"Es ist sehr unreal", sagt Kateryna Prokopenko. "Ich sitze in einem Park, spüre die Sonne auf meinem Gesicht, kann essen und trinken, was ich möchte. Ich weiß nicht, wann Denys zum letzten Mal einen Baum gesehen hat." Es gebe nichts, was sie wirklich von den Gedanken an das Stahlwerk losreißen könne, sagt sie. Ständig wandert ihr Blick auf ihr Smartphone; ständig erwartet sie die Nachricht, dass es gestürmt wurde.

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