1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Vom Leben mit der Angst

Die Hansa-Apotheke in Eimsbüttel. Auf der Terasse stehen Erika Estis' Schwestern mit ihrem Kinderfräulein – im Hintergrund die Christuskirche. Foto: Privatarchiv Erika Estis

Behütet lebt Erika Estis mit ihrer Familie in der Fruchtallee, wo ihr Vater eine Apotheke betreibt. Bis die Nationalsozialisten an die Macht kommen und mit ihnen die Furcht in ihr Leben tritt.


Erika Estis erinnert den 1. April 1933 als den Tag, an dem sie kennenlernte, was Angst bedeutet. Es ist der Morgen, an dem das Wort „Jude" an der Fruchtallee 27 prangt. SA-Männer hatten das Haus mit weißer Farbe beschmiert und Posten bezogen.

„Das war der Anfang davon, immer mit der Angst zu leben", erinnert sie sich. „Außen schien alles normal. Aber die Furcht war immer da." Als Hitler den Boykott gegen jüdische Geschäfte ausruft, ist Erika Freundlich, wie sie damals heißt, gerade zehn Jahre alt. Mit ihrer Familie lebt sie über der Apotheke ihres Vaters.

Von da an geben ihr die Nachbarskinder hässliche Namen. Estis hatte sie für Freunde gehalten. Jetzt singen sie Reime voller Judenhass. Reime, die sich eingebrannt haben. Noch heute, nach fast einem Jahrhundert, kann sie die Lieder nachsingen. Dabei rückt sie näher an die Kamera ihres Laptops, sodass niemand sonst sie hören kann. Sie schüttelt den Kopf. „Ist es nicht lustig, an welche Dinge man sich erinnert?"

Erika Estis ist heute 98 Jahre alt und lebt in New York. Oft kehrte sie nach Deutschland zurück, doch immer nur zu Besuch. Sie brachte ihre drei Kinder nach Hamburg, später ihre Enkel und Urenkel. „Ich wollte wirklich, dass sie es kennen. Es ist ein wunderbarer Ort, eine schöne Stadt. Das war sie immer."

Eine Apotheke in Eimsbüttel

In ihrem Leben sind Erika Estis viele Arten von Angst begegnet. Die Angst eines jungen Mädchens, ihre Eltern nie wieder zu sehen. Die Angst der Eltern um ihre Kinder. Sie erlebte, wie ein Terrorregime die Angst zu ihrem mächtigsten Verbündeten machte. „Angst ist die Hauptquelle von Aberglaube und eine der Hauptquellen von Grausamkeit", sagte der Philosoph Bertrand Russell.

Die Familie Freundlich wohnt damals in einem Gründer­zeitbau an der Ecke Fruchtallee und Vereinsstraße. Es ist ein Eckhaus, gebaut 1879. Drei Stockwerke, ein Turm mit Runddach. Aus den Mauern treten Statuen und Säulen hervor. Im Erdgeschoss liegt die Apotheke des Vaters, die Materialkammer und ein Labor, wo Mitarbeiter Medikamente mischen.

Hinter der Apotheke führt ein Korridor zu einer Treppe, hier gelangt man zur Wohnung der Familie. Paul und Irma Freundlich, Erika und ihre drei Schwestern, ein Hausmädchen - jeder hat ein eigenes Schlafzimmer. Es gibt eine große Küche, ein Esszimmer, einen Salon.

„Als ich in Eimsbüttel lebte, war es kein besonders schicker Ort, eher eine Gegend für die Unterschicht", erinnert sich die 98-Jährige. „Ich glaube, das hat sich sehr verändert." Es überrascht sie aber auch, wie viel unverändert blieb.

Schon damals fuhr gegenüber an der Kirche die U-Bahn ab. Sie liebte die Christuskirche, besonders die Sonntage, wenn die Glocken den ganzen Tag für sie spielten. Immer wenn Erika Estis wieder in Hamburg ist, besucht sie die Christuskirche und wartet auf ihr Läuten. „Es war eine glückliche Kirche." Und der Pastor ein Freund ihres Vaters.

Ein misstrauisches Pflaster

Estis' Vater, Paul Freundlich, war Apotheker. Im Dezember 1909 kauft er zwei Grundstücke in Eimsbüttel und erwirbt damit die Hansa-Apotheke. Als erster jüdischer Inhaber kämpft er von Beginn an gegen antisemitische Vorurteile der Nachbarn. Kann man einem jüdischen Apotheker vertrauen? Was mischt er in die Medikamente? Nach dem Inhaberwechsel brechen die Umsätze ein. Erst als der Pastor der Christuskirche Paul Freundlich in seiner Predigt einen vertrauensvollen Menschen nennt, verbessert sich die Lage.

Trotzdem greifen ihn Kunden und Wettbewerber immer wieder an. Der erste Vorwurf geht 1915 beim Medizinalrat ein: Paul Freundlich habe ein schlecht klebendes Pflaster verkauft. Dabei hatte Hersteller Beiersdorf dem Leukoplast vorsorglich den Hinweis „Kriegsproduktion" beigelegt. Als der Kunde Buhlert das Pflaster in der Apotheke reklamiert, erstattet ihm Paul Freundlich das Geld. Aber Buhlert gibt sich nicht zufrieden, vermutet üble Machenschaften jüdischer Pharmakologen: „Diesem Treiben des Herrn Freundlich und der Firma Beiersdorf & Co. muss Einhalt geboten werden", meldet er dem Medizinalrat.

Ab 1934 haben es auch die Behörden auf Paul Freundlich abgesehen. Bei einer Prüfung monieren sie Schmutz und Unordnung - Freundlich solle die Apotheke schließen. Doch der beschließt, stattdessen im Garten des Grundstücks eine neue zu bauen. Eine nagelneue Apotheke konnte kaum schmutzig sein. „Und sie war prächtig", erinnert sich Erika Estis. Mit einem roten Kreuz auf dem Dach und modernen grünen Fliesen an der Wand. Auch die Behörde gibt zunächst Ruhe. „Aber es hielt nicht länger als ein Jahr. Dann kamen sie und nahmen ihm alles."

Mit Verabschiedung der Nürnberger Gesetze 1935 verliert die Familie Haus und Geschäft. „Sie wollten keine jüdischen Apotheker mehr, weil sie das gute deutsche Volk vergifteten", erzählt Estis. So zieht die Familie nach Eppendorf in die Oderfelder Straße.

Ein Rat, der ein Leben rettete

Die drei älteren Schwestern waren mittlerweile zum Studieren fortgezogen. Erika besucht noch die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße. Am Morgen des 10. November 1938, nach der Reichspogromnacht, schicken ihre Eltern Erika in die Schule. Die Klasse soll an diesem Tag einen Mathetest schreiben. „Oh, ich war schlecht in Mathe", lacht sie. „Aber ich musste diesen Test schreiben." Also fährt sie los, allein mit dem Rad, vorbei an der Bornplatzsynagoge. Sie sieht Polizei und SA-Männer dort stehen, die zersplitterten Scheiben, die vandalierte Tür. Sie ist bestürzt. Hatte es gebrannt? Erika verstand nicht. „Meine Eltern haben mir nie etwas erzählt. Alles schien normal. Ich war wirklich behütet."

An der Schule angekommen, warten keine Schüle­rinnen im Hof wie sonst. Das Tor ist verschlossen, also klingelt sie. Ihre Lehrerin Bertha Loewy öffnet. Was Erika hier mache? „Ich komme zur Schule. Wir haben einen Mathetest." „Du kannst nicht in die Schule kommen. Wie können dich deine Eltern wegschicken?" Die Lehrerin weist sie an, nach Hause zu gehen. „Bleib nicht stehen, geh ins Haus und komm nicht wieder raus."

Während Erika Estis erzählt, baumeln ihre langen Ohrringe. Sie schließt beim Reden ihre Augen, als sehe sie ihre Lehrerin wieder vor sich. „Meine Eltern hatten einen Grund, mich in die Schule zu schicken." Die Ausbildung ihrer Kinder war ihnen immer wichtig gewesen. „Es war kein sehr guter. Verrückte Deutsche. Wir waren jüdisch, aber wir waren wie alle anderen."

Nach der Pogromnacht geht alles sehr schnell. Groß­britannien willigt ein, bedrohte Kinder aufzunehmen. Als die Schülerinnen in die Töchterschule zurückkehren, kommt Bertha Loewy auf die 16-jährige Erika zu: „Sag deinen Eltern, sie sollen dich mit einem Kindertransport nach England schicken. Du wirst dort eine bessere Ausbildung erhalten." Sie hatte die geheimen Worte gesagt - „eine bessere Ausbildung". Aber Erika war die letzte von vier Schwestern, die noch in Hamburg lebte. „Es war nie geplant, dass ich gehe. Ich war noch ein Kind - wie hätte ich gehen sollen?"

Trotzdem erzählt sie zuhause vom Rat der Lehrerin. Ohne Bertha Loewy hätte ihre Familie wohl nicht von der Möglichkeit des Kindertransports erfahren. Ihre Eltern setzen alles in Bewegung, um Erika die Fahrt nach England zu ermöglichen. „Niemand wollte uns. Aber die Briten waren wunderbar." Sie retten 10.000 Kinder. Ihren Eltern aber bleibt die Einreise verwehrt. „Meine Eltern waren so tapfer. Sie haben ihre vier Kinder gerettet - nur sich selbst nicht. Aber ich bin am Leben. Danke, Bertha Loewy."

Ein „Tschüss" für immer

Der erste Kindertransport verließ Berlin am 1. Dezem­ber 1938. Erika Estis reist am 14. Dezember ab. Es ist ein nasskalter Tag in Hamburg. Mit ihren Eltern nimmt sie ein Taxi zum Altonaer Hauptbahnhof. In der großen Empfangshalle versammeln sich Kinder und ihre Angehörigen. Doch Estis erinnert sich an keine anderen Menschen. In ihrer Erinnerung sieht sie nur ihren Vater. In seinem langen blauen Mantel steht er vor ihr und weint. Er weint so sehr, dass sich seine Tochter schämt. „Ich wollte nur weg von dort." Ihre Mutter schaut sie nicht an, Erika war sich sicher, dass auch sie weinte. „Das hätte ich nicht ertragen."

Erst später - als sie einen Brief ihres Vaters an ihre Schwester liest - findet sie heraus, dass alle geweint hatten: die kleinen Kinder, die Mütter, die Väter. Es war eine Bahnhofshalle voller Eltern, die ihre Kinder auf ein unbestimmtes Wiedersehen verabschiedeten. Wahrscheinlich gab es an diesem Mittwochmorgen in ganz Hamburg keinen Ort, an dem mehr Tränen flossen. Aber daran erinnert sich Erika nicht. „Ich hätte die einzige sein können, die dort war. Ich erinnere mich an meinen Vater und dass ich dachte: ‚Wann kommt der Zug? Ich muss weg von hier.'"

Als der Zug endlich einfährt, legt Paul Freundlich die Hände auf den Kopf seiner Tochter und segnet sie ein letztes Mal. „Nur deshalb bin ich noch hier", sagt Estis heute. Damals sagte sie „Tschüss" und ging. „Ich habe mich nie richtig verabschiedet. Ich hatte keine Ahnung, dass es für immer sein würde."

Denn die Kinder sollten nur solange in England bleiben, bis sich die Lage beruhigt hat. Aber die Notlage endete nicht. Es wurde nur schlimmer.

In London muss Erika Estis oft ihr Zuhause wechseln. Ihre Eltern schreiben ihr Briefe. Bis der Krieg ausbricht - dann verlieren sie den Kontakt. Nur ihre Schwestern in den USA und der Schweiz schreiben noch mit ihnen. In einem Brief des Vaters an Erikas Schwester in Amerika, schreibt er: „Sag Erika nichts von unserer neuen Adresse. Wir wollen nicht, dass sie sich aufregt." Die Schwestern gehorchen. „Aber sie vergaßen, dass ich heranwuchs. Ich war alt genug, um es zu wissen." Erst durch einen Zufall findet Erika heraus, dass ihre Eltern am 11. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden.

„Diese Angst ist lähmend"

In London fallen derzeit jede Nacht Bomben. „Ich hatte schreckliche Angst. Ich wollte am Leben bleiben, damit ich wieder mit meinen Eltern vereint sein konnte. Das war immer mein großes Ziel." Eine der Bomben schlägt neben dem Haus ein, in dem Estis wohnt. Die Wände stürzen ein, doch sie schaffen es nach draußen. Danach wird sie fortgeschickt, muss wieder umziehen, in eine schäbige Londoner Gegend, in der sie nicht sein will. Auch dort fallen Bomben. Wieder explodiert eine neben ihrem Haus, bringt es zum Einsturz. Sie flüchten in einen Luftschutzbunker.

Noch heute erinnert sich die 98-Jährige, wie sie dort im Dunkeln auf einer Bank saß, erstarrt vor Angst. „Diese Angst ist lähmend, so lähmend." In dieser Nacht beschließt sie, dass sie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Sie hatte Todesangst, doch von nun an räumte sie ihr keine Macht mehr über ihre Gedanken ein. „Man kann alles überwinden, wirklich alles. Man muss stark sein und eine positive Einstellung haben. Du kannst vieles schaffen, von dem du nicht glaubst, dass du es kannst."

Wie Bertrand Russell sagte: Angst ist die Hauptquelle von Aberglaube und eine der Hauptquellen von Grau­samkeit. Ihre Überwindung aber der Beginn von Weisheit.

Als eines Nachts in London wieder die Sirenen kreischen und die Bomben vom Himmel fallen, bleibt Erika Estis in ihrem Bett. Während andere in den Luftschutzkeller flüchten, hält sie sich die Ohren zu und hört auf, sich zu fürchten.

Über Erika Estis

Erika Freundlich wird 1922 als jüngste von vier Schwestern geboren. Mit ihrer Familie lebt sie in Eimsbüttel - bis sich die Verfolgung jüdi­scher Menschen 1938 zuspitzt. Mit einem Kindertransport gelangt sie nach England. Nach dem Krieg siedelt sie in die USA über zu ihren Schwestern. Sie heiratet, bekommt drei Kinder, hat sieben Enkel und ebenso viele Urenkel. Heute lebt Erika Estis in New York.

Im letzten Jahr bekam sie die deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Bei einer Zeremonie im Haus ihrer Tochter überreicht der deutsche Konsul ihr die Urkunde. „Ich glaube, mein Vater hätte sich gefreut. Er war in der Armee, ein Offizier - und sehr stolz darauf, Deutscher zu sein", sagt Estis. „Deutschland ist nicht mehr das, was es einmal war. Und ich hoffe, es bleibt so. Aber wir sind alle in Schwierigkeiten. Nicht nur Deut­schland, auch wir in Amerika." Zum Original