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Amanda Gormans Gedichte: Lyrikerin als globaler Superstar

Im Rampenlicht: Amanda Gorman im September 2021 bei der Met-Gala in New York. Bild: DPA.

Seit der Amtseinführungszeremonie für Joe Biden ist sie der poetische Liebling nicht nur der Amerikaner: Nun erscheint ein dicker Gedichtband der erst vierundzwanzigjährigen Amanda Gorman.

Als sie im kanariengelben Mantel und mit breitem roten Haarreif 2021 ihr Gedicht auf der Amtseinführungszeremonie für Präsident Joe Biden vortrug, richteten sich die Augen der Welt auf Amanda Gorman. 22 Jahre war sie da alt, und „The Hill We Climb" katapultierte sie in den Superstar-Olymp. Heute ist Gorman Werbegesicht der Kosmetikmarke Estée Lauder, trat beim Superbowl auf und macht Lyrik zu Popkultur. Ihr erster Gedichtband, „Call Us What We Carry", in den Vereinigten Staaten vor einem Jahr erschienen, ist nun ins Deutsche übersetzt worden - publiziert unter Beigabe der englischen Originaltexte. Auf den resultierenden vierhundert Seiten philosophiert Gorman lyrisch über Identität, Demokratie und Sprache, eingebettet in die großen Themen unserer Zeit: die Covid-Pandemie, Rassismus, den Klimawandel.

Schon der deutsche Titel „Was wir mit uns tragen" verrät, dass die Übersetzungen von Marion Kraft und Daniela Seel den englischen Originalen nicht immer gerecht werden. „Was wir mit uns tragen" meint das emotionale Erbe schwarzer Menschen in den USA, die von Sklaverei und Lynchmorden bis hin zu „Black Lives Matter" ein kollektives Trauma namens Rassismus durchleben mussten und müssen. Der Imperativ „Call Us" meint jedoch noch mehr. Es geht nicht darum, dass Rassismus existiert. Es geht darum, dass privilegierte Personen den Rassismus gegenüber marginalisierten Gruppen benennen, ihn als solchen anerkennen. Womit wir beim Problem wären, das sich durch den gesamten Gedichtband zieht: Amanda Gorman kommt aus der Spoken-Word-Tradition. Ihre Worte wirken am besten, wenn sie vorgetragen werden. Nieder­geschrieben fehlt der performative ­Zauber des Spoken Word ein Stück weit.

Obendrein gilt es, einen Spagat zwischen der lyrischen Form und der inhaltlichen Übersetzung zu finden. Bewusst gewählte Stilmittel wie Alliterationen oder Assonanzen gehen manchmal in der Übersetzung verloren. Um ebenjene zu erhalten, werden an anderer Stelle Be­griffe nur im weitesten Sinne übersetzt; nicht immer gelingt das. Ästhetik und Inhalt treten in Konkurrenz; entscheidet man sich für das eine, leidet das andere.

Der Ästhetik Rechnung tragend, bringt Amanda Gorman ihr Werk nicht nur rein stiltechnisch in äußere Form, sondern auch auf visueller Ebene. Die Gedichte werden zu Nachrichtenchats, zu Fragebögen und Dramenfragmenten. Die Sätze sind auf Zeichnungen der amerikanischen Flagge oder einer Gesichtsmaske abgebildet, in Form eines Auges oder Wals angeordnet. Bei der sogenannten „Erasure Poetry“ werden Wörter aus­radiert, um die Be­deutungsmöglichkeiten des Gedichts zu erweitern, wie Gorman selbst sagt: „Wir streichen, um zu finden.“ Allen voran das Meer ist ein wiederkehrendes Motiv. Metaphern von end­losen Tiefen, einsamen Leuchttürmen und Schiffbrüchen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Gedichtband. Wortspiele wechseln mit Anaphern und Epiphern. Ihre Liebe zu Sprache bringt Gorman gar auf die Metaebene. Sie analysiert die Funktion von Pronomen, die Bedeutungsänderung eines Satzes durch das Weglassen von Kommata, leitet die Herkunft von Begriffen anhand von deren Vorsilben ab. Das Gedicht selbst wird zur Gedichtanalyse.

Gegliedert in sieben Kapitel, sind die Gedichte Bestandsaufnahme und Klageschrift zugleich. Gorman wandelt auf historischen Pfaden und interpretiert Dokumente aus dem zwanzigsten Jahrhundert neu, die in ihrer Aktualität nicht zu überbieten sind. Da wären Kondolenzbriefe aus der Zeit der Grippe-Epidemie von 1918. Da wären die rassistisch motivierten blutigen Aufstände in Chicago, deren Brutalität ihnen den Beinamen „Roter Sommer“ einbrachte. Und da wären die Tagebucheinträge des schwarzen Soldaten Roy Underwood Plummer, der im Ersten Weltkrieg in Frankreich kämpfte und niederschrieb, wie die Grippe Teile des Feldlagers dahinraffte. Amanda Gorman geht so weit, Krieg und Pandemie zu ver­gleichen: „Hass ist ein Virus. Ein Virus braucht einen Körper . . . Hass überlebt nur, wenn Menschen ihm Raum geben.“

Auch mit dem Staatsapparat rechnet sie ab. Mit lockeren Waffengesetzen und nicht enden wollenden Fällen von Polizeigewalt kommt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht gut weg. „Was wir mit uns tragen“ reflektiert das „Post-Memory“ schwarzer Menschen, das emotionale Erbe, das auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Komplementär dazu führt Gorman den Begriff des „Pre-Memory“ ein: Das, was gerade in der Welt geschehe, müsse man ansprechen, diskutieren und anprangern. Wenn man vergesse und aktuelle Missstände nicht aufarbeite, würden auch die zukünftigen Generationen diesen Ballast mit sich tragen müssen. Amanda Gormans Gedichtband ist eine nüchterne Bilanz des frühen 21. Jahrhunderts, aber auch Appell. Der Appell, weiterzumachen, kritische Fragen zu stellen, für sein Recht einzustehen. Man spürt es brodeln in diesem Werk, doch man spürt auch Hoffnung und Veränderung.

Amanda Gorman: „Was wir mit uns tragen / Call Us What We Carry“. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen von Marion Kraft und Daniela Seel. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. 448 S., geb., 28,– €.

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