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Aus Gästen werden Kunden | Forum - Das Wochenmagazin

Felix Fröhlich verkauft im zum Lebensmittelladen umfunktionierten Restaurant "Lode & Stijn". Foto: Ute Schirmack.

Das Kreuzberger Restaurant „Lode & Stijn" wurde in der Krise zum Lebensmittelladen. Es lockt mit hausgemachtem Brot und „Bitterballen" in „Wochenend-Boxen". Die „Plattform 2020" konzentriert sich als Lieferdienst mehr auf Privatkunden. Neu sind Regio-Kisten mit Produkten von Bauern und Molkereien aus Brandenburg und der Markthalle Neun.

In Holzkisten lagern aparte Gemüse wie Rosenkohl- und Braunkohl-Sprossen. Mit Blüten und Kräutern bedeckter Ziegenfrischkäse zieht die Blicke auf sich. Joghurt, geräucherte Forelle und Gläser mit Eingewecktem warten in einem Tischkühlschrank auf Käufer. Darf's noch eine Flasche Lambrusco oder Chardonnay von der „Weinhandlung Suff" dazu sein? Das üppige Lebensmittel-Panorama auf zusammengestellten Tischen im Kreuzberger „Lode & Stijn" lässt beinah vergessen, dass hier erst vor Kurzem ein Restaurant umgemodelt wurde.


Aus dem vorderen Gastraum wurde ein Lebensmittelladen mit Bäckerei. Das hatte sich Lode van Zuylen vor vier Jahren, als er gemeinsam mit Stijn Remi ein Restaurant in der Lausitzer Straße eröffnete, sicher so nicht träumen lassen. Aber nun sind andere Zeiten, andere Situationen und teils eine andere Kundschaft. Die braucht im Corona-Lockdown Zutaten zum Selbstkochen und mag sie gern in der Güteklasse wie sie das „Lode & Stijn" schon immer bietet - von kleinen regionalen Erzeugern und Händlern. Die Gäste wurden zu Kunden und Selberkochern, wenngleich kleine eingeweckte Gerichte zum Aufwärmen ebenfalls dabei sind. Die Aktivitäten der Restaurantbetreiber bekommen allen gut. Denn schließt ein Restaurant, geht's auch dem Landwirt, Gärtner oder der Molkerei dahinter schlecht. Wer sein Lokal mit einem angepassten Konzept fortführt, tut nicht nur sich und seinen Gästen, sondern auch seinen Lieferanten in der Krise Gutes und schafft Abnahmemöglichkeiten.


Und es gibt immer Neues für die Kunden zu entdecken. Mir sind jedenfalls noch keine violetten Rosenkohlsprossen mit Blütchen untergekommen. Also kaufe ich. „Einfach mit etwas Olivenöl anschwitzen", rät Felix Fröhlich, der hinterm Tresen steht und verkauft. Zu seiner Rechten lagern viele braun gebrannte Brote. Nach den Rezepten des Hauses, von den Gästen innig geliebt. Ich nehme ein ciabatta-artiges, pures mit. Ein großes Stück vom alten Gouda, ein Päckchen von der im Fass geschlagenen Butter, zwei Flaschen Wein und ein Pfund vom Beelitzer Spargel später klingelt die Kasse nach gar nicht mal so wenig Geld. Doch der Rucksack ist mit meinem spontanen Wochenendeinkauf beinah komplett gefüllt. Wer Tante Emma schätzt, zahlt etwas mehr, hat dafür aber auch genau die Produkte im Korb, die das „Echte Lebensmittel"-Gefühl mit Wohlgeschmack und ordentlicher Erzeugung vermitteln.


Durch Appetitlichkeit überzeugen - das konnte das „Lode & Stijn" schon vor seiner Verwandlung. Mitte März, unmittelbar nach der Schließung der Restaurants für den Gastbetrieb vor Ort, entschieden die Betreiber, nicht auf ein „normales" Take-away zu setzen. „Wir hatten so viel im Lager. Das wollten wir verkaufen", sagt Lode van Zuylen. „Und das Brot hat eine zentrale Rolle bei uns. Dann haben wir festgestellt: Hey, da haben wir doch noch Wein. Und, hey, da sind noch Eier. Wir haben uns gesagt: Das können wir doch in Kisten packen." Die „Wochenend-Box" entstand. Sie wird auf Instagram unter @lode.and.stijn kommuniziert und für 100 Euro verkauft.


Wir müssen einfach Geld verdienen"

Die für zwei Personen zum Vespern, Trinken und Kochen konzipierte Box muss unter reservation@lode-stijn.de für einen der drei Abholtage vorbestellt werden. Geöffnet ist an der Lausitzer Straße 25 dann freitags, samstags und sonntags von 11 bis 15 Uhr. „Komm lieber später, ab 14 Uhr", warnt mich Lode van Zuylen vor. Die Schlange auf dem Bürgersteig könnte sonst ziemlich lang sein. Nur eine Person darf jeweils zum Einkaufen oder Abholen eintreten. Die Orientierung über all die Spezereien in Gemüsekisten, Weckgläsern, Flaschen und auf der Brot-Ablage kann dann schon mal einen Moment dauern. Die gute Nachricht für alle, die allein wirtschaften: Beinah alles ist ohne Box im Laden einzeln erhältlich - so lange der Vorrat reicht und durchaus täglich wechselnd.


„Wir müssen einfach irgendwo Geld verdienen, sonst geht das Schiff unter", sagt van Zuylen, seit 17 Jahren Koch. „Wir üben alle einen Beruf aus, den wir unfassbar lieben. Aber das Geld muss reinkommen, damit der Betrieb weiterläuft." Jetzt arbeiten im Laden zwei Leute vom Team. Die anderen kümmern sich in der Küche darum, dass Forellen-Spargel-Brühe gekocht, „Bitterballen" zum Selbstfrittieren geformt, Tiramisu geschichtet und Brot gebacken wird. „Wir bekommen eine große Wertschätzung, auch aus der Nachbarschaft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ladenkonzept wieder weggeht. Wir werden konzeptionell auch dauerhaft auf die veränderte Situation reagieren." Nicht zuletzt: Mit den Gästen sind auch 40 Prozent Touristen weggefallen, die vermutlich erst in ferner Zukunft wiederkommen werden.


Was sich bei den einen attraktiv arrangiert präsentiert, bleibt bei den anderen im Verborgenen. Oder besser gesagt: der virtuellen Auslage im Onlineshop vorbehalten. Joghurtgläser, Bärlauchbüschel, Wurzeln und Kartoffeln von der „Plattform 2020" sind in Trolleys allenfalls auf ihrem Weg vom Lieferwagen zum Lager im Keller der Markthalle Neun zu sehen. Was ankommt, geht gleich wieder raus - „Farm to table" mit kurzem Umschlagstopp in Kreuzberg. Der ursprünglich für Köche gedachte Lieferservice hatte lange Zeit nur vereinzelte Endkunden. Doch der Gastronomie-Umsatz brach in der Corona-Krise um 75 Prozent ein, weiß „Plattform 2020"-Inhaber und Geschäftsführer Jiro Nitsch. Deshalb öffnete er den Onlineshop sehr rasch auch für Privatkunden. Ob Salat von Bauer Zielke oder aus Watzkendorf, Gurken aus Pretschen oder Pale Ale vom Craftbeer-Brauer Heidenpeters nebenan aus der Halle - alles, was gut und nah und vom kleinen Erzeuger ist, ist nun für jedermann bestellbar. „Unser Ziel ist es, dass die Kunden ihren Wocheneinkauf bei uns bekommen können", sagt Nitsch. „Mit Brot, Käse, Obst und Gemüse. Das schaffen auch Singles mit 50 bis 60 Euro."


Die Produkte der mehr als 60 Erzeuger stammen aus zwei unterschiedlichen Bereichen, die sich sehr gut ergänzen: Landwirte wie der Ziegenhof Ogrosen, das Ökodorf Brodowin oder - exklusiv für Berlin - die Domäne Dahlem und Molkereien liefern aus Brandenburg. Die anderen Produzenten sitzen gleich neben den „Plattform 2020"-Büros in der Markthalle Neun: die Bäckerei Sironi, die „Tofutussis", die Metzgerei „Kumpel & Keule", die Käsehändler Menze oder „Alte Milch", die Nudelmacher „Mani in Pasta", „Britzer Kräuter" oder Heidenpeters Brauerei. Nützliches aus der Naturkosmetik ergänzt das Angebot - von der Körperpflege über Hygieneartikel für Babys und Erwachsene bis zum Hand- und Flächendesinfektionsmittel.


Boxen kosten je nach Inhalt 20 bis 80 Euro


„Wir bleiben mit unseren Produkten recht lange regional", sagt Jiro Nitsch. Geht eine Saison zu Ende und kann ein Erzeuger nicht mehr ernten, hat ein anderer Salat, Äpfel oder Lauch noch länger auf dem Feld oder am Baum. Neben den Standards gibt es Spezialitäten, die sonst kaum für Endkunden erhältlich sind - längliche „Breakfast"-Radieschen oder Mini-Fenchel etwa. Ganz neu sind die „Regio-Kisten".

Das „Basis"-Modell für 25 Euro bietet, so Nitsch, das „Standard-Obst und -Gemüse". In der „Veggie"-Kiste gibt's mehr Gemüse plus Eier für 35 bis 40 Euro. In die vegane Kiste zum gleichen Preis werden „noch speziellere Gemüse" wie etwa Sprossen gepackt. Die Box mit Fleisch von „Kumpel & Keule" wird für 60 Euro geliefert, und den Querschnitt durchs Hallensortiment bietet eine „Markthalle Neun"-Kiste für 80 Euro.


Die „Plattform 2020" entstand als „starke Schnittstelle zwischen kleinen Betrieben und Erzeugern und Köchen" parallel zur „Markthalle Neun", erzählt Jiro Nitsch. Gastronomen wie die vom „Nobelhart & Schmutzig" oder „Lode & Stijn", die mit ihren „Daheim"-Menüs oder ihrem Lebensmittel- und Backwaren-Laden à la Tante Emma der Krise mit veränderten Konzepten entgegentreten, sind ihr nach wie vor eng verbunden. Sie beziehen ihre Produkte auch weiterhin über die „Plattform 2020". Doch eines ist ebenfalls sicher: So wie „vorher" wird es in einem „Nachher", nach dem Corona-Lockdown mit vielen Auflagen und Abstandsregeln, in den Lokalen nicht mehr sein. Deshalb sind Ideen und Flexibilität wie diese gefragt, um alte und neue Kunden zu erreichen und ohne allzu große Verluste selbst weiter zu existieren.

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