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Äthiopier*innen erzählen von ihrer Flucht vor dem Bürgerkrieg

Zehntausende Menschen aus Äthiopien suchen derzeit Schutz im Sudan. Zwei von ihnen berichten, wie es ihnen geht – und welche Hoffnungen sie haben.



Hailenariam Alemu saß an seinem Computer und schrieb einen Krankenhausbericht, als ihn eine Detonation aus seinen Gedanken riss. Es war der 9. November 2020 in Humera, einer Kleinstadt im Nordwesten Äthiopiens. „Ich bin sofort aus dem Büro gelaufen und habe herumgefragt, was zu tun ist“, erzählt er etwa zwei Monate später am Telefon gegenüber jetzt. Auch die Kolleg*innen im Krankenhaus sprangen auf, diskutierten nächste Schritte. Es blieb nicht viel Zeit.

Nach etwa zehn Minuten seien die ersten Verletzten im Krankenhaus angekommen: eine Mutter mit ihrer Tochter. Blut sei von ihrem Brustkorb hinuntergeströmt, die Tochter sei am Oberschenkel verletzt gewesen. „Unsere Ärzte mussten die Mutter sofort operieren“, erinnert sich Hailenariam. An diesem Nachmittag erreichte der äthiopische Bürgerkrieg den 25-Jährigen und veränderte sein Leben und seine Zukunftspläne radikal.

„Ich habe 46 tote Körper mit meinen eigenen Augen gesehen“, fasst der Krankenhausmanager seine Erlebnisse vom Tag und der Nacht des 9. November zusammen. Hailenariams Angaben lassen sich nicht überprüfen, aber sie ähneln Berichten von ortsansässigen Mediziner*innen. Viele Menschen, so erzählt Hailenariam, hätten ihre Familienangehörigen zum Hospital gebracht und auf ein Wunder gehofft. Die Ärzt*innen hätten aber oft nur noch den Tod feststellen können. Auch am 10. November habe er Explosionen in Humera gehört. 

Die Stadt liegt in der Tigray-Region. Dort kämpft die Armee der äthiopischen Regierung gegen die sogenannte „Volksbefreiungsfront von Tigray“ (TPLF). Die TPLF ist die einflussreichste politische Partei der Tigray-Region, verfügt seit ihrer Gründung als Rebellenorganisation aber auch über einen bewaffneten Arm. 

Für fast drei Jahrzehnte besetzten Politiker*innen der TPLF auch in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba viele wichtige Posten. Das änderte sich 2018, als Abiy Ahmed als neuer Premierminister Äthiopiens antrat und die TPLF zunehmend entmachtete. Die TPLF wehrt sich seitdem nicht nur gegen ihren Machtverlust in der Hauptstadt, sondern auch gegen Abiys Politik der nationalen Einheit im Vielvölkerstaat Äthiopien. 

Bei den vergangenen Regionalwahlen im September gewann die TPLF 98 Prozent der Stimmen in der Tigray-Region. Die Partei genießt dort auch deshalb so großen Rückhalt, weil viele Tigriner*innen ihre Identität in erster Linie über ihre Zugehörigkeit zur Region anstatt zum äthiopischen Nationalstaat definieren. „Ich bin kein Äthiopier sondern Tigriner“, sagt auch Hailenariam. Auch er ist Anhänger der TPLF, sein Profilbild bei Facebook zeigt das Logo der TPLF.

Hailenariam ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Bis November leitete er die Krankenhausverwaltung, lebte mit seinen Eltern, seiner Frau und den Kindern im Haus. Während um ihn herum Granaten einschlugen und Menschen verstümmelten, musste er mit seiner Frau zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: Wollten sie in der Heimat bleiben und das Leben ihrer beiden Kinder riskieren? Oder fliehen und die eigenen Eltern zurücklassen, die nicht mehr gut laufen können? Sie entschlossen sich zur Flucht. Für sie ist es eine Flucht vor den Regierungstruppen.

Die Einschläge der Granaten ließ Hailenariam hinter sich, die Angst wurde er nicht los

Erst 2019 hat Abiy Ahmed, der Ministerpräsident Äthiopiens, für seine Friedensverhandlungen mit dem Nachbarland Eritrea den Friedensnobelpreis erhalten. Am frühen Morgen des 4. November brach Abiy allerdings mit vielen Erwartungen, die mit der goldenen Nobelpreis-Medaille verbunden waren. Der äthiopische Ministerpräsident verkündete zu diesem Zeitpunkt den kommenden Militäreinsatz gegen die TPLF. Noch in der Nacht des 4. November hatte Hailenariam Schusswechsel in der Ferne gehört, wie er berichtet. Fünf Tage später folgte die schwere Explosion nahe seines Krankenhauses. 

Bisher starben laut dem Expertengremium „International Crisis Group“ Tausende in den Kämpfen, aber genaue Angaben dazu gibt es nicht. Die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) registrierte im Nachbarland Sudan bisher 57 000 Geflüchtete aus Äthiopien.

Während der heftigen Gefechte habe sich die Familie zwei Tage lang im nahegelegenen Wald versteckt, erzählt Hailenariam. Der Wald schien vielen sicherer als die Stadt, die unter Beschuss stand. Am 12. November sei das Paar aufgebrochen, mit dem Allernötigsten im Gepäck und dem Allerwichtigsten, den Kindern, auf dem Arm. „Auf der Straße lagen Leichen“, sagt Hailenariam. Zu Fuß und per Bus erreichten sie das UNHCR-Aufnahmezentrum in der sudanesische Grenzstadt Hamdayet. Drei Wochen später wurden sie in das Um-Rakuba-Flüchtlingslager gebracht. Was in der Zwischenzeit auf dem Weg passierte, erzählt Hailenariam nicht.

Die Einschläge der Granaten ließ Hailenariam hinter sich, die Angst wurde er nicht los. Denn seine Eltern müssen in der Heimatstadt überleben, während alle Banken und Geschäfte geschlossen sind. „Sie haben Hirse geerntet. Nur davon leben sie jetzt“, erklärt er. „Ich mache mir große Sorgen. Vielleicht werden sie verhungern.“ Tatsächlich ist die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, aber auch Medikamenten in der Region nicht sichergestellt.

Immer wieder, so erzählt der 25-Jährige, habe er die Nummer der Eltern gewählt, aber erst zwei Mal konnte er sie erreichen. Als Teil der Kriegsstrategie hat die äthiopische Regierung nämlich Internet- und Telefonverbindungen in die umkämpfte Tigray-Region im Norden Äthiopiens gekappt.

Ministerpräsident Abiy nannte den Tigray-Feldzug wiederholt eine „Operation der Strafverfolgung“. Hailenariam nennt es „Krieg“. Laut Amnesty International wurden zeitgleich zum Beschuss von Humera Hunderte Menschen in der Nachbarstadt Mai-Kadra massakriert. Zeug*innen zufolge sollen die Mörder*innen zu TPLF-nahen Milizen gehören, eine eindeutige Identifikation steht aber aus. Geflüchtete aus Humera berichten zudem von Gräueltaten durch regierungsnahe Milizen. Mit der Einnahme von Mekele, der Hauptstadt Tigrays, durch die Regierung erklärte Abiy Ahmed die Militäroperation am 28. November für erfolgreich abgeschlossen. Berichte über weitere Massaker belegen aber, dass sich der Bürgerkrieg offenbar nicht wie eine Deckenlampe ausschalten lässt. In Tigray und den angrenzenden Regionen herrscht weiterhin Gewalt.

Der Tigray-Krieg ist ein Streit um Macht und Autonomie zwischen Politiker*innen in der Landeshauptstadt Addis Abeba und der regionalen Hauptstadt Mekele. Er stiehlt die Träume vieler Unbeteiligter.  Sara Kebede träumt zum Beispiel von einem eigenen kleinen Supermarkt. Das erzählt sie Hailenariam, er übersetzt ihre Worte für jetzt ins Englische. In der Heimat lebten die beiden in derselben Straße, hier im Sudan trafen sie sich wieder. Die 24-jährige Sara arbeitete vor ihrer Flucht als Rezeptionistin in einer Privatklinik in Humera. Für ihren Traum vom eigenen Geschäft schuftete sie zusätzlich in den frühen Morgenstunden. „Vor der Arbeit habe ich Sesam angebaut. Ich habe auf die Erntezeit gewartet. Doch dann kam der Krieg“, erzählt sie. Im Um-Rakuba-Flüchtlingslager verkauft Sara nun Tee.

Hailenariam träumt davon, sich mit einem weiterführenden „Public Health“-Studium fortzubilden, denn er spürt eine große Verantwortung in seinem Beruf als Krankenhausmanager. „Ich will mich weiter spezialisieren. Das Studium wird mir helfen, meinen Job zu machen und unserer Gemeinschaft zu helfen“, erklärt er sein Ziel. Der Krieg hat ihm Trümmer in den Weg gelegt. Dennoch macht Hailenariam weiter, so gut es eben geht. Als freiwilliger Helfer teilt er sein Wissen über Hygieneregeln mit den Geflüchteten im Um-Rakuba-Flüchtlingslager. Doch kann das helfen?

 

Um das Camp zu entlasten, werden Neuankömmlinge inzwischen in ein weiteres Flüchtlingslager gebracht

Auf den staubigen Straßen zwischen weißen Zelten mit dem UNHCR-Logo drängen sich die Menschen dicht an dicht. So ist es auf den Fotos und Videos zu sehen, die uns Mitarbeiter*innen der Hilfsorganisation „Care“ zugeschickt haben. Zwischen den ohnehin jungen Gesichtern laufen überall Kinder durchs Camp. Frauen haben sich ihre Babys mit Tüchern auf die Rücken gebunden. Einige verschaffen sich mit Regenschirmen Schutz vor der Sonne, denn die Temperaturen steigen hier tagsüber auf knapp 40 Grad Celsius im Schatten. Schutzmasken wegen der Pandemie trägt niemand.

„Es ist überfüllt, ganz besonders in Anbetracht der Covid-Pandemie“, erläutert Tesfaye Hussein die Lage im Um-Rakuba-Flüchtlingslager. Er schätzt, dass etwa 21 000 Geflüchtete in den Zelten im Um-Rakuba-Flüchtlingslager ausharren. Hussein leitet als Programmdirektor den Einsatz der Hilfsorganisation „Care“ im Sudan. Um das Camp zu entlasten, werden Neuankömmlinge inzwischen in ein weiteres Flüchtlingslager gebracht, das weiter im Landesinneren des Sudan liegt.

Hussein zählt in einem Telefongespräch auf, woran es im Camp fehle: Wasser, Nahrungsmittel, sanitäre Anlagen, Hygieneartikel, eine adäquaten Gesundheitsversorgung. „Seit fünf Wochen versuchen wir, Medikamente zu bekommen, aber wir können einfach nirgends die Mengen finden, die wir hier benötigen“, sagt Hussein.

Sara ergatterte nicht einmal ein eigenes Zelt. Seit ihrer Ankunft zwänge sie sich in das Zelt von Bekannten aus Humera, sagt sie. Sie zähle jeden Tag, den sie so schon durchgestanden hat: „Einen Monat und zehn Tage.“ Als sie von ihren beiden Schwestern erzählt, die irgendwo in der sudanesischen Grenzstadt Hamdayet stecken, iaht ein Esel lautstark dazwischen. Hailenariam, der für Sara übersetzt, muss lachen. Komik schafft es selbst dorthin, wo sonst nur Sorgen den Tag diktieren.

Sorgen macht Sara vor allem der Blick in die Zukunft. „Es wird sehr schwer werden, meinen Plan vom Supermarkt umzusetzen. Denn jetzt bin ich hier und ich habe auch kein Geld.“ Hailenariam hat Geld, das Ersparte für sein Studium liegt auf einem Bankkonto. Aber wann er, seine Frau und seine Kinder das Um-Rakuba-Camp wieder verlassen können, wisse er nicht. Laut Helfer Tesfaye Hussein berichten die Neuankommenden weiterhin von Gräueltaten in der Tigray-Region.

Die Ungewissheit bleibt momentan die einzige Konstante im Leben der Geflüchteten. Hailenariam weiß nicht, ob seine abgeschotteten Eltern in der Heimatstadt überleben werden. Er weiß nicht, wo seine Kinder zur Schule gehen werden. Er weiß nicht, wann er den nächsten Krankenhausbericht schreiben wird.










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