Vorsichtig setzt sich eine ältere Frau auf eine Holzbank vor dem Volkshaus der Grazer KPÖ. Sie hat einen Termin mit Parteichefin Elke Kahr, der Kommunistin, die soeben sensationell die Bürgermeisterwahl in Graz gewonnen hat. Bald läuft Kahr herbei, ein Stapel Akten in den Armen, Zigarette zwischen den Zähnen, Brille im Haar. Zehn Minuten später verlässt die Besucherin das Büro der Kommunalpolitikerin. Sie verabschiedet sich von Kahr mit den Worten „Sie sind die Beste – wirklich – danke“.
In ihrer
politischen Karriere führte Kahr viele solcher Gespräche – und regelte die
Probleme der Bürger oft aus eigener Tasche. Von 6000 Euro netto Gehalt
verwendete sie jeden Monat 4050 Euro, um bedürftige Menschen zu unterstützen.
Sie behält 1950 Euro. Unerwartet hohe Stromrechnung, kaputte Waschmaschine,
bevorstehende Räumungsklage – Kahr zahlte, ihre Parteikollegen tun es ihr
gleich. Am Tag der offenen Konten, den die Kommunisten einmal im Jahr
veranstalten, machen die Parteimitglieder ihre Finanzen traditionell
transparent.
Als Bürgermeisterin will sie sich eine Gehaltserhöhung von 50 Euro genehmigen: „Von den knapp 14.000 Euro brutto werde ich mir dann vermutlich 2000 Euro behalten“, sagt sie im Gespräch mit WELT. Insgesamt hat Kahr in ihrer politischen Karriere 900.000 Euro an Mitbürger überwiesen. Kauft sie sich damit nicht einfach Stimmen? „Ich habe noch nie jemanden gefragt, den ich unterstützt habe, von wo er kommt und was er wählt“, sagt sie. „Ohnehin sind viele unserer Hilfsempfänger hier nicht einmal wahlberechtigt.“
Die
Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) hat bei der Gemeinderatswahl in Graz
einen Erfolg errungen, über den sich in Österreich und darüber hinaus viele die
Augen reiben. Sie holte fast 30 Prozent der Stimmen in der zweitgrößten Stadt
Österreichs. Am selben Sonntag, an dem in Deutschland die Linkspartei bei der
Bundestagswahl auf fünf Prozent abstürzte. Verbirgt sich in der
österreichischen Metropole ein Rezept, von dem auch die Linken in Deutschland
lernen können. Was ist das Rezept für den Erfolg linker Ideen heute?
Die Kommunistin Kahr schlug Langzeitbürgermeister Siegfried Nagl von der konservativen ÖVP mit einem Programm, das wie eine Bestätigung der Thesen der deutschen Linken-Vordenkerin Sahra Wagenknecht gelesen werden kann. Wagenknecht hatte zuletzt die deutsche Linke massiv dafür kritisiert, sich vor allem um Identitäts- und Genderpolitik zu kümmern – und die lebensweltlichen sozialen Probleme ihrer Wählerschaft zu vernachlässigen. Kahr treibt diesen Gedanken auf die Spitze. Im Wahlkampf plakatierte sie ihre Telefonnummer, um für die Anliegen der Menschen erreichbar zu sein. Der Grund dafür, dass ihr altes Nokia-Handy aus dem Jahr 2005 beinah pausenlos klingelt.
„Der Fehler
der Linken in Deutschland ist sicherlich, dass sie wie viele andere europäische
linke Parteien, linke Politik nur abstrakt macht – nicht nahe am Menschen“,
sagt Kahr. Die wohl künftige Grazer Bürgermeisterin pflegt eine Art
Robin-Hood-Sozialismus. Marxistische Theorie ist weniger ihr Thema.
Zwangsenteignungen sind ein Thema von Rot-Rot-Grün in Berlin, die
Kommunistische Partei in Graz fordert dies nicht. Selbst im traditionell
tiefbürgerlichen Geidorf, wo am Rosenhain-Hügel die schönsten Villen der Stadt
stehen, überholte Kahr die ÖVP und holte 30 Prozent. Kahr gilt als bestens mit
vielen Immobilienmaklern der Stadt vernetzt.
Sie will als Bürgermeisterin nun neue Gemeindebauwohnungen errichten lassen. Das Geld aus dem Portemonnaie der Bürgermeisterin dürfte dafür kaum reichen. Die KPÖ will auf eine „Leerstandsabgabe“ setzen, die auf ungenutzte Wohn- und Geschäftsräume in der Grazer Innenstadt erhoben werden soll. Klima- und Verkehrspolitik sind für Kahr soziale Themen. Feinstaub, Motorenlärm, Gehupe, das ist Graz. Nun sollen Nahverkehrstickets billiger werden. Neue Straßenbahnlinien, Buslinien über die Stadtgrenzen hinaus. Das Geld soll aus öffentlichen Mitteln kommen – und natürlich entsprechend zu einer höheren Verschuldung führt. Dem Autoverkehr will sie mit Anreizen, nicht Verboten, entgegenwirken.
Kann das alles schon einen 30-Prozent-Wahlerfolg erklären? Es gibt auch Sondereffekte. Kahr sei die „Politikerin mit der größten Strahlkraft innerhalb der Partei“, sagt Politologe Wassermann. Ohne eine solche Galionsfigur kommt die KPÖ in Österreich meist auf um die zwei Prozent, im österreichischen Parlament war Partei das letzte Mal 1960 vertreten. In Graz aber ist die Prozenthürde bei Wahlen so niedrig, dass die Partei immer im Gemeinderat und damit in der Stadt präsent war. Schon Ernest Kaltenegger, Kahrs Vorgänger als KPÖ-Chef, war Grazer Stadtrat für den Wohnbau. Er war ebenfalls bekannt dafür, direkt zu den Menschen zu gehen und sich persönlich um die sozialen Nöte zu kümmern.
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