Tobias Jochheim

Texte mit Herz und Hirn (Journalist), Düsseldorf

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Artikel

Der kleine Lauschangriff

privat

Erkan Dörtoluk belauscht Gespräche in Bus und Bahn und twittert das Worst Of. 

Erkan Dörtoluk kann es nicht fassen. Bei jeder Bahnfahrt aufs Neue. Worüber die Menschen in der Bahn reden. In Zimmerlautstärke, sodass man sich nicht heranschleichen muss, um mitzuhören, sondern den Gesprächen seiner Nachbarn im Gegenteil kaum entkommen kann, wenn man nicht gerade selbst tief in Gedanken ist. "Egal, wie alt die Leute sind, wie arm oder reich; die Themen sind immer dieselben", sagt Dörtoluk. "Leben und Tod, Arbeit, Karriere und Geld - und immer wieder Fortpflanzung."

Der 41-Jährige ist mit einem anderen Verständnis von Privatsphäre aufgewachsen. Halb belustigt und halb besorgt reagiert er auf die heute herrschende Zeigewut im Netz: Mein Mittagessen, mein Urlaub, meine Hochzeit und Scheidung - dokumentiert mit Fotos, Videos, Ortsangaben.

Dörtoluk erinnert sich gut an die Proteste gegen den "Großen Lauschangriff", mit dem die Bundesregierung um die Jahrtausendwende die Verfolgung von Straftaten erleichtern wollte. Und an die Revolte der Bürger aller Schichten und politischen Ansichten gegen die Volkszählung, die 1983 stattfinden sollte. Vier Jahre lang demonstrierten Junge und Alte gegen die Erhebung von aus heutiger Sicht harmlosen Basisinformationen. "Nur Schafe lassen sich zählen!", lautete einer der Schlachtrufe. Es kam zu publikumswirksamen Protesten selbst auf dem Rasen des Dortmunder Westfalenstadions und zu Razzien der Polizei bei Kritikern. Erst das Bundesverfassungsgericht bremste die Bundesregierung aus. Im Mai 1987 wurde die Zählung schließlich doch durchgeführt, allerdings in abgeschwächter Form.

"Und heute?", fragt Dörtoluk. "Ob NSA oder BND: Wer uns abhört, muss sich doch erst fremdschämen und dann den Verstand verlieren."

(...)

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