Tobias Grießbach

Freier Journalist / Social Media Redakteur / Aktivist, Leipzig

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Artikel

Steine und Zäune: Jerusalem und das arabische Israel

Die momentan entfesselte Gewalt in Israel und Palästina wirkt von außen betrachtet, als wäre sie überraschend heftig und spontan ausgebrochen. Dabei ist sie das Resultat einer verfehlten Politik, welche Konflikte ignoriert hat.

Wenn man die aktuelle Medienberichterstattung über die Gewalteskalation in Palästina/Israel betrachtet, fällt schnell auf, dass der Konflikt mehrheitlich als einer zwischen den israelischen Streitkräften und den islamistischen Fraktionen im Gazastreifen - ausgelöst durch Konfrontationen am und auf dem Tempelberg/Haram al-Sharif - wahrgenommen wird. Das ist nicht grundlegend falsch, vernachlässigt aber eine politische und gesellschaftliche Entwicklung, die zwangsläufig in einer solchen Gewaltentladung resultieren musste.

Sowohl der radikale Arm der Hamas als auch der Führungsstab der Israel Defense Forces (IDF) sowie die politische Führung des Landes haben jeweils angekündigt, die Konfrontationen nicht abklingen zu lassen und drehen damit weiter an der Gewaltspirale, während aufgeheizte Lynchmobs beider Seiten in den größeren Städten Israels Schlachtfelder hinterlassen. Diese politische und gesellschaftliche Implosion kommt nicht aus dem Nichts, sondern steht am Ende einer Politik, die kein anderes Resultat zulassen konnte.

Die Gewalt kommt nicht aus dem Nichts

Watch: Deputy Mayor of #Jerusalem, Arieh King, tell a Palestinian activist "it's a pity" he wan't shot in the head, last night in #SheikhJarrah pic.twitter.com/AgLEXc1nLW

- Oren Ziv (@OrenZiv1985) May 7, 2021

Auch oder gerade besonders der noch amtierende Ministerpräsident Israels, Benyamin Netanjahu, hat den gesellschaftlichen Rechtsdrall forciert, indem er den Likud beziehungsweise eine rechte bis ultrarechte Koalition zur einzigen wählbaren Option aufgebaut und dafür das rechts-religiöse Establishment auf Kosten der säkularen und nicht-jüdischen Bevölkerung hofiert hat.

Israels offene Gräben

Obwohl allen nicht-jüdischen Individuen nach der Staatsgründung vollumfängliche staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten zugesichert wurden, haben Nicht-Jüd:innen keinen Platz in der nationalen Ikonografie Israels und bleiben eher ein Fremdkörper in einem Staatswesen, das permanent im Spannungsfeld zwischen ethnonationalen und universellen Prinzipien pendelt.

Mit dem Rechtsruck unter Netanyahu verschob sich auch die Prinzipienfrage nach rechts und fand ihren Höhepunkt im Nationalstaatsgesetz, das 2018 verabschiedet wurde und das Staatswesen final an ethnonationale Faktoren band, ohne jedoch kaum spürbare Veränderungen zu bewirken. In der Praxis ist die mangelnde Wahrnehmung der arabischen Bevölkerung jedoch durchaus sichtbar und äußert sich in der forcierten Marginalisierung der beduinischen Siedlungen in der Negev oder der juristischen Vernachlässigung ganzer arabischer Städte, deren Bevölkerungen seit Jahren gegen steigende Kriminalität und eine tatenlose oder aber übermotivierte Polizei .

„Diese letzten Tage waren in Haifa fast surreal. So etwas habe ich in meiner geliebten Stadt noch nie erlebt. In der zweiten Nacht in Folge stürmten etwa 200 jüdische Siedlerextremist:innen, die sich selbst als „Bürgerarmee" bezeichnen, palästinensische Stadtteile von Haifa. Sie sind mit Schlagstöcken und anderen Waffen bewaffnet, viele von ihnen haben eine militärische Ausbildung hinter sich, und sie sind gut organisiert.

Am Nachmittag werden kleine Gruppen dabei beobachtet, wie sie in Gebäude eindringen und Türen, die palästinensischen Bewohnern gehören, mit einer roten Markierung versehen. Sie haben Dutzende von Autos zerstört, Palästinenser:innen auf der Straße angegriffen und versucht, in die Häuser von Palästinenser:innen einzubrechen. Ähnliche Angriffe wurden auch in anderen gemischten Städten wie Lydd, Akko und Jerusalem verübt."

Solche Erfahrungen teilen derzeit nahezu alle Bevölkerungsgruppen, seien sie jüdisch oder arabisch.

Immer wieder Jerusalem

Die Dynamik Jerusalems, besonders seiner neuralgischen Punkte, ist geprägt von einer stillen gegenseitigen Duldung mit einem unübersehbaren Misstrauen, dessen „Berechtigung" in Jahrzehnten von Terroranschlägen auf der einen Seite, Besatzung, gewalttätigen Mobs, sukzessiver Verdrängung durch Siedler:innen und anlasslosen und erniedrigenden Polizeikontrollen auf der anderen liegt. Dementsprechend steht der Gewalt die Tür immer einen Spalt offen. Jerusalem ist die zentrale Ikonografie besonders der radikalen Fraktionen unter Israelis und Palästinenser:innen und beide haben hohes Mobilisierungspotenzial, insbesondere wenn es dazu konkrete Anlässe gibt.

Jerusalem ist, wenn auch kein physisches Schlachtfeld, mehr denn je ein ideologisches, in dem jeder Quadratmeter Boden entweder palästinensisch oder israelisch, säkular oder religiös ist. Wie fragil diese Aufteilung ist, zeigt sich beispielsweise immer wieder an den Reaktionen auf die israelischen sicherheitspolitischen Eingriffe auf dem muslimischen Haram al-Sharif/Tempelberg oder am religiösen Eindringen in säkulare Orte.

Es gibt keinen neutralen Ort in Jerusalem, alles ist politisch und Mikroaggressionen Teil des Alltags. Obwohl der juristische Kampf um das Viertel nördlich der Altstadt nicht neu ist, steht er stellvertretend für einen Kampf um Wahrnehmung, Gleichberechtigung und Teilhabe auf Augenhöhe, die im Angesicht des israelischen Rechtsrucks immer unwahrscheinlicher werden.

Auf dem Weg zur Intifada

Was im Moment passiert, ist vielmehr ein gewalttätiger Ausdruck einer Ungleichheit, mangelnder gegenseitiger Sichtbarkeit und ein Angriff auf gewohnte Dominanzen und weniger ein orchestrierter Aufstand einzelner Gruppierungen. Diese Ungleichheit ist nicht zwangsläufig von israelischer Seite forciert oder geplant gewesen, vielmehr ist sie das Ergebnis eines ethnonationalen Staatsverständnisses, transgenerativer Traumata und daraus entstehenden mangelnden Handlungsoptionen.

„1929 lag immer in der Luft", definiert das israelische Dilemma in Anspielung auf das Hebroner Massaker in jenem Jahr. Seit dem Jahr 2000 verzeichnet Israel zivile Opfer durch palästinensische Gewalt, seit 1920 sind es insgesamt . gibt die Zahl palästinensischer Opfer israelischer Gewalt seit 2000 mit 9849 an (verlässliche Zahlen für den kompletten Zeitraum existieren nicht).

Abgesehen vom gewohnheitsmäßig harten und unverhältnismäßigen Vorgehen von Polizei, Border Police und IDF hat Israel seit seinem Bestehen noch keine derartige spontane zivile Gewalt erlebt. Die zentralisraelische Stadt Lod (Lydda) hat am elften Mai den Notstand ausgerufen und offiziell ihre Hilflosigkeit erklärt.

Genauso hilflos geriert sich der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas, der Demonstrationen und Kundgebungen aus Sorge um seinen politischen Status . Gleichzeitig er aber die Gewalt in Jerusalem, während die die momentane Eskalation zur neuen Intifada erklärt. Die Gräben werden dadurch nicht unbedingt breiter, sie werden vor allem sichtbarer und markieren einen Wendepunkt im israelisch-palästinensischen Verhältnis, von dem noch nicht abzusehen ist, in welche Richtung sich dieses entwickeln wird. Steine, Flaschen und Brandsätze fliegen, israelische und palästinensische Mobs machen Jagd aufeinander, in diesem Ausmaß ein fast unbekanntes Phänomen.

Im Westjordanland wird auf Siedler:innen und palästinensische Zivilist:innen geschossen, Moscheen werden und Synagogen und noch nie sind derart viele Raketen so weit aus Gaza nach Israel geflogen, die Israel mit umso härterem Beschuss beantwortet; insgesamt gibt es bisher über 230 Todesopfer und unzählige Verletzte in Gaza, Israel und im Westjordanland. Ein Ende ist nicht in Sicht. Israels Präsident Reuven Rivlin spricht von „". Es gibt aber auch tausende Jüd:innen und Araber:innen protestierten öffentlich gegen die Gewalt und Verantwortliche der Ausschreitungen werden identifiziert.

We all need some good news today pic.twitter.com/t8157ElKKH

- Aziz Abu Sarah (@AzizAbuSarah) May 13, 2021

Wenn sich die Unruhen abgekühlt haben, bleiben jedoch große, grundlegende Fragen nach der Beschaffenheit der israelischen Gesellschaft, nach der Zukunft Gazas und der palästinensischen Bevölkerung allgemein und nach der Richtung der israelischen und palästinensischen Politik im Raum. Auch ist derzeit unklar, welche Folgen die Eskalation für den Normalisierungsprozess einer Reihe arabischer Staaten gegenüber Israel haben wird, der letztes Jahr angestoßen wurde.

Klar ist, dass Jerusalem, solange sich die Situation und Stadtpolitik nicht ändert, immer wieder das Epizentrum nationaler und religiöser Auseinandersetzungen sein wird. Am 14. Mai 1948 beschallte ein Lautsprecher der Hagana die arabische Bevölkerung in Sheikh Jarrah mit folgenden Worten: "Wenn ihr bleibt, erzeugt ihr ein Desaster". 73 Jahre später scheint diese Warnung immer noch zu gelten.

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