Tobias Brück

Sozialwissenschaftler & freier Journalist

1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Parlamentswahlen in Frankreich 2022

Etwa zwei Monate nach den Präsidentschaftswahlen, bei denen die Wählerinnen und Wähler den amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron im Amt bestätigten, finden in Frankreich die Parlamentswahlen statt. Die Wahlen der Assemblée nationale (Nationalversammlung) gelten als richtungsweisend. Die Zusammensetzung der neuen Nationalversammlung hat großen Einfluss auf die Regierungspolitik des französischen Staatspräsidenten. Die erste Runde der Parlamentswahlen fand am 12. Juni statt. Die Wahlbeteiligung blieb mit rund 47,5 Prozent der Wahlberechtigen auf niedrigen Niveau, stieg aber im Vergleich zu 2017 deutlich an. Die zweite Runde findet am 19. Juni 2022 statt.

Im ersten Wahlgang kommen die Präsidentschaftsliste Ensemble citoyens und das linke Bündnis NUPES beide auf etwa 25,7 Prozent der Stimmen. Der Rassemblement National gewinnt rund 18,7 Prozent der gültigen Stimmen für sich. Die Republikaner bekommen etwa 10,4 Prozent der Wählerstimmen. Die rechtsextreme Reconquête erhält circa 6 Prozent.

Politisches System

Das französische Parlament setzt sich aus zwei Kammern zusammen: Dem Senat und der Nationalversammlung. Um ein Gesetz zu verabschieden, müssen ihm sowohl Nationalversammlung als auch Senat zustimmen. Kommt es zwischen beiden Kammern zu keiner Einigung, kann die Nationalversammlung den Senat überstimmen. Die Assemblée nationale und der Senat überwachen zudem die Regierungsarbeit, wobei das Misstrauensvotum den Abgeordneten der Nationalversammlung vorbehalten ist.

kurz erklärtDas französische Wahlsystem

Die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung der Fünften Republik werden einige Wochen im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen nach dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen bestimmt.

In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter gewählt. Jeder Wahlkreis umfasst in etwa 125.000 Wahlberechtigte: 539 Wahlkreise sind auf dem französischen Festland zu verorten, 19 in den Überseegebieten (DOM) und acht in den überseeischen Gebietskörperschaften. Zudem gibt es 11 Wahlkreise für die im Ausland lebenden Französinnen und Franzosen.

Die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung in Frankreich werden alle fünf Jahre in allgemeiner und direkter Wahl gewählt. Wahlberechtigt sind alle Personen mit französischer Staatsbürgerschaft, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Das passive Wahlrecht haben alle französischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit Vollendung des 18. Lebensjahrs inne.

Im ersten Wahlgang ist ein Abgeordneter eines Wahlkreises gewählt, wenn er mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen erreicht hat, sofern seine Stimmenzahl mindestens 25 Prozent beträgt. Im zweiten Wahlgang reicht die relative Mehrheit. Antreten kann, wer im ersten Wahlgang mindestens 12,5 Prozent der Wählerstimmen erhielt.

Durch dieses Mehrheitswahlsystem kann es zu einem starken Gefälle zwischen dem relativen Stimmanteil in der ersten Runde der Parlamentswahlen und den Sitzen, die eine Partei nach der zweiten Runde in der Nationalversammlung erhält, kommen. Zum Beispiel konnte der Front National bei der Wahl 2017 im ersten Wahlgang rund 13 Prozent der Stimmen gewinnen - dies entspräche 75 Sitzen -, erhielt jedoch letztlich im zweiten Wahlgang nur acht Sitze im Parlament.

Die 348 Mitglieder des Senats werden hingegen nicht direkt von Bürgerinnen und Bürgern gewählt, sondern alle drei Jahre wird die Hälfte der Senatoren von einer Wahlversammlung (Abgeordnete, Regionalräte, Gemeinderäte, Departementräte) für sechs Jahre gewählt.

Das politische System Frankreichs ist ein semipräsidentielles Regierungssystem. Das heißt, es vereint Elemente aus dem präsidentiellen und parlamentarischen Regierungssystem. Dabei kann es zu der Situation kommen, bei der Staatspräsident und die stärkste Fraktion im Parlament zwei unterschiedlichen Lagern angehören und der Präsident keine eigene Mehrheit im Parlament hat. Diese Situation wird als Cohabitation (Zusammenleben) bezeichnet. Das Staatsoberhaupt ist dann in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt und auf eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung und dem Parlament angewiesen. Dies kam bisher dreimal in der Geschichte der V. Republik vor. Zuletzt war das von 1997 bis 2002 der Fall, als der konservative Jacques Chirac als Staatspräsident mit dem Sozialisten Lionel Jospin als Premierminister kooperieren musste. Sollte Macron seine Mehrheit im Parlament verlieren, ist eine vierte Cohabitation möglich.

Die französische Parteienlandschaft gilt als zersplittert und instabil. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Neugründungen, Spaltungen, Umbenennungen und Auflösungen. Die letzte Legislaturperiode war innenpolitisch von den Gelbwestenprotesten und der Corona-Pandemie sowie außenpolitisch von europapolitischen Ambitionen geprägt. Zuletzt dominierte der Krieg Russlands gegen die Ukraine das politische Tagesgeschehen in Frankreich.

Der seit 2017 amtierende Staatspräsident Emmanuel Macron ist Mitglied der von ihm gegründeten, als liberal und proeuropäisch geltenden, Partei La République en Marche. In der Assemblée Nationale hält die Partei die absolute Mehrheit. Derzeitige Premierministerin ist seit Mitte Mai Élisabeth Borne.

Wahlergebnisse 2017

Sechs Wochen nach der Präsidentschaftswahl gewann Emmanuel Macron bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2017 mit seiner Partei La République en Marche (LREM) und der verbündeten MoDem (Mouvement démocratie) in der Stichwahl mit 43 Prozent 350 von 577 Abgeordnetenmandaten. Für die absolute Mehrheit waren 289 Sitze nötig. Die in den Jahrzehnten davor dominierenden Parteien erlitten erhebliche Verluste: Das konservative Lager erzielte 131 Mandate. Die Sozialisten von Ex-Staatschef François Hollande und verbündete linke Parteien kamen sogar nur auf 29 Sitze in der Nationalversammlung. Die rechtspopulistische Front National (FN) von Marine Le Pen erlangte nur acht Sitze. Die Wahlbeteiligung fiel mit 43 Prozent auf ein neues Rekordtief. Das war der niedrigste Wert für eine Parlamentswahl seit der Gründung der Fünften Republik 1958. Fünf Jahre zuvor hatte die Beteiligung noch bei 57,2 Prozent gelegen.

Wahlbündnisse

Im Vorfeld der Parlamentswahlen sind Wahlbündnisse aus verschiedenen politischen Lagern entstanden. Das zentralistische Bündnis des Präsidenten Macron heißt Ensemble citoyens (Gemeinsam Bürger). Es versucht, die absolute Mehrheit für Macron in der Nationalversammlung zu verteidigen, was jedoch als unwahrscheinlich gilt. Spitzenkandidat ist der Präsident der Nationalversammlung Richard Ferrand.

Größter Herausforderer ist das neu gegründete linke Bündnis Nouvelle union populaire écologique et sociale (NUPES, Neue ökologische und soziale Volksunion). Es setzt sich aus der Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei, den Grünen, der als linkspopulistisch geltenden Partei Partei La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) sowie kleineren linken Parteien zusammen. Spitzenkandidat ist Jean-Luc Mélenchon, der bei den Präsidentschaftswahlen nur knapp den Einzug in die Stichwahl verpasste. Das Bündnis setzt sich für soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz ein.

Der Rassemblement National (früher: Front National) tritt mit Marine Le Pen, die die Stichwahl gegen Macron um das Präsidentenamt verlor, an seiner Spitze an. Der rechtspopulistische Rassemblement National zeichnet sich durch eine zuwanderungsfeindliche sowie nationalistische Position aus und agitiert gegen die Europäische Union.

Die konservativen Républicains sind im Bündnis Union de la droite et du centre (Union der Rechten und der Mitte) vertreten. Spitzenkandidat des Bündnisses ist Christian Jacob.

Auch die Bewegung Reconquête (Rückeroberung) rund um den rechtsextremen Publizisten und Autor Éric Zemmour will in die französische Nationalversammlung einziehen. Mit seinen Thesen zur Zuwanderung und der vermeintlichen Islamisierung Frankreichs sowie seiner aggressiven Rhetorik sorgt Zemmour regelmäßig für öffentliche Aufregung.

Wahlkampfthemen

Die Wahlen finden vor dem Hintergrund des Kriegs Russland gegen die Ukraine und der Corona-Pandemie statt. Staatspräsident Macron versuchte mittels diplomatischen Bemühungen, einen Krieg in Europa zu verhindern und erneuerte seine Forderung nach mehr europäischer Souveränität und einer europäischen Verteidigungsallianz als Ergänzung zur NATO. Auch wenn der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine andere politische Herausforderungen in den Hintergrund gerückt hat, spielten auch andere Themen im französischen Wahlkampf eine wichtige Rolle.

Entscheidend könnten die gesellschaftliche Konfliktlinien rund um Kaufkraft und soziale Gerechtigkeit sein. Seit der Revolte der Gelbwestenbewegung ist die soziale Frage zu einem zentralen Thema der französischen Politik geworden. Viele Angehörige der Mittelschicht und Arbeiterinnen und Arbeiter klagen über den Verlust von Kaufkraft oder befürchten diesen. Die derzeit hohe Inflation hat dies noch weiter verstärkt. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat auch nach Abebben der Bewegung nichts an seiner politischen Sprengkraft eingebüßt. Parteien aus unterschiedlichen Lagern versuchten diese für sich zu nutzen.

Für große Diskussionen im Wahlkampf sorgte die von Präsident Macron geplante Rentenreform. Diese sieht vor, das Renteneintrittsalter von 62 auf 65 Jahre anzuheben. Im Gegenzug soll die Mindestrente leicht erhöht werden. Vor allem das linke Lager kritisiert die Erhöhung des Renteneintrittsalters; NUPES fordert sogar eine Absenkung des Rentenalters auf 60.

Auch die Migrationspolitik und die damit verknüpften Fragen nach der französischen Identität nehmen im Wahlkampf 2022 viel Raum ein. Vor allem die konservativen und rechten Kräfte in Frankreich versuchten sich mit den Themen Identität und Einwanderung zu profilieren. Frankreichs Rechte und Konservative verknüpften dazu auch Sicherheitsdebatten mit Integrations- und Einwanderungsfragen.

Der Wahlkampf fällt 2022 mit der französischen EU-Ratspräsidentschaft zusammen. Das Thema Europa ist kontroverser als je zuvor. Während sich der rechte und linke Rand gegen die EU positionierte, forderte das zentralistische Lager mehr Macht für die Staatengemeinschaft und inszeniert sich als Impulsgeber für deren Erneuerung.

Durch die steigenden Energiepreise vor dem Hintergrund des Kriegs gegen die Ukraine rückten die Energie- und Klimapolitik mehr in den Vordergrund. Auch die Debatte um die Zukunft der Atomenergie gewann durch die Preisinflation und die EU-Taxonomie-Richtlinie, wonach Nuklearenergie als nachhaltig eingestuft wurde, wieder an Aktualität.

Mehr zum Thema

Tobias Brück ist Volontär in der Online-Redaktion der bpb. Er studierte Soziologie und Politikwissenschaft in Rostock, Bremen, Prag, Berlin und Paris. Zudem arbeitete er u. a. für verschiedene Zeitungen und das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Zum Original