Tobias Becker

Journalist, Kulturredakteur, Hamburg

3 Abos und 4 Abonnenten

Wankende Vorurteile

(Rede zur Auswahl der Mülheimer Theatertage Stücke 2015,
gehalten als Sprecher des Auswahlgremiums auf der Programm-Pressekonferenz)


Das Jubiläumsjahr der Mülheimer Stücke war und ist ein Glücksjahr.

Ein Glücksjahr für das Auswahlgremium, das viele starke Stücke sichten durfte, außergewöhnlich starke Stücke, die zu großen Theatermomenten geführt haben. Ein Glücksjahr für das Mülheimer Publikum, das die sieben stärksten der insgesamt 98 neuen Stücke nun noch sehen, die größten Theatermomente noch erleben darf.  Ein Glücksjahr für die Gegenwartsdramatik, die gestärkt aus diesem Jahr hervorgehen wird.

Denn das Jubiläumsjahr der Mülheimer Stücke zeigt, was zeitgenössische Autoren alles leisten können für das Theater. Zeitgenössische Autoren können den Anstoß geben für die wirklich besten Theaterabende des Jahres. Zeitgenössische Autoren können den Stoff liefern für große Ensembles auf großen Bühnen. Zeitgenössische Autoren können das Theater zu einem schnellen, einem aktuellen, einem politisch relevanten Medium machen: einem Medium, das schnell auf aktuelle politische Debatten reagiert – und diesen Debatten aus dem Kunstraum heraus einen eigenen, neuen Kick gibt.

Das Jubiläumsjahr der Mülheimer Stücke bringt manches Vorurteil ins Wanken.


Oft heißt es
, neue Stücke seien nicht welthaltig genug, beschränkten sich auf eine Nabelschau. In den Stücken, die dieses Jahr um den Mülheimer Dramatikerpreis konkurrieren, geht es um Alltagsrassismus und rechtsextreme Gewalt, um unser Asylrecht und das Schicksal schutzflehender Flüchtlinge, um späte Kinderwünsche und künstliche Befruchtung, um den Wahnwitz überkorrekter, gesundheitsfanatischer Besserbürger. Es sind die Themen, über die das Land auch abseits des Theaters diskutiert.Das Trendthema des Theaterjahres sind die Taten der Terrorzelle NSU: Es gibt so viele neue NSU-Stücke, dass es problemlos möglich gewesen wäre, das komplette Festival nur mit ihnen zu bestücken. Jedes dieser Stücke hatte seine Berechtigung, jedes hat vor Ort wertvolle politische Arbeit geleistet, nicht jedes wies aber über die eigene Stadt hinaus, nicht jedes hat auch künstlerisch völlig überzeugt.

Völlig überzeugt hat ein Stück, das sich eher indirekt mit dem Thema NSU befasst: mit dem allgegenwärtigen Morast, in dem Terrorzellen gedeihen können. Geschrieben hat es Dirk Laucke, genannt hat er es „Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute“. Es ist eine Szenencollage aus den rechten Ecken unserer Gesellschaft. Ein multiperspektivisches Stück, das nichts vereinfacht. Eine Dokumentation, keine Predigt. Laucke mutet dem Zuschauer das Mitdenken zu.


Oft heißt es
, neue Stücke seien etwas für die Studiobühne, für unerfahrene Jungregisseure mit zwei, drei, vier unerfahrenen Jungschauspielern, kurz: Neue Stücke seien etwas für kleine Produktionsbudgets. Am Deutschen Theater Göttingen inszeniert der neue Intendant Erich Sidler höchstselbst und greift auf sein gesamtes Ensemble zurück, 26 Schauspieler stark, um Rebekka Kricheldorfs Gesellschaftssatire „Homo Empathicus“ auf die Bühne zu bringen. Kricheldorf hat den Wunschtraum nach einer politisch korrekten Gesellschaft zu Ende geträumt – und ist in einem Albtraum aufgewacht: in einer Gesellschaft, in der nur übervorsichtige Gesundheitsfanatiker leben, die nicht rauchen und kein Fleisch essen, aber literweise klares Wasser trinken, um ihre reinen Körper durchzuspülen. In einer Gesellschaft, in der nur hypersensible Tierfreunde leben, die sich sogar davor fürchten, auf eine Ameise zu treten. In einer Gesellschaft, in der nur gestelzt förmliche Besserbürger leben, die in einer geschlechtsneutralen und auch ansonsten diskriminierungsfreien Sprache miteinander sprechen. Es ist eine gehirngewaschene Gesellschaft.


Oft heißt es
, das richtig gute Theater sei Metropolentheater. Das Auswahlgremium hat zwei der sieben besten Stücke des Jahres in der sogenannten Provinz gefunden: „Homo Empathicus“ in Göttingen und „Wunsch und Wunder“ von Felicia Zeller in Saarbrücken.
Zeller hat eine Groteske über die Mitarbeiter einer Praxis für Reproduktionsmedizin geschrieben, voller kleiner Zoten und Albernheiten, mit einem hellwachen, pubertätsgewitzten Blick auf die Absurditäten des Business. Ihre Figuren monologisieren vor sich hin, in verrückt hohem Tempo, und bringen kaum einen Satz ins Ziel. Geschweige denn einen klugen Gedanken. Das Saarbrücker Ensemble treibt diesen Irrsinn auf die Spitze, mit viel Spaß an der Klamotte..


Oft heißt es
, großes Interesse gebe es eher für Theaterabende, die auf klassischen Stücken beruhten, auf berühmten Romanen, auf beliebten Filmen. In diesem Jahr ist das anders. In diesem Jahr sind vier der sieben Inszenierungen neuer Stücke, die nach Mülheim eingeladen sind, auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen, zur Bestenschau der Branche. Es sind „Common Ground“ von Yael Ronen, „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz, „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek und „die unverheiratete“ von Ewald Palmetshofer. Das gab es so noch nie, nicht so geballt.

Besonders großes Aufsehen, über die Einladung zum Theatertreffen hinaus, haben „Die Schutzbefohlenen“ erregt. Das liegt am Text von Jelinek, einer wuchtigen, kämpferischen Wut- und Klagerede zum Flüchtlingsdrama vor Lampedusa, und das liegt an der Inszenierung von Nicolas Stemann, in der Schauspieler des Hamburger Thalia Theaters gemeinsam mit Lampedusa-Flüchtlingen auf der Bühne stehen, die seit Jahren für ein Bleiberecht in Hamburg kämpfen.


Oft heißt es
, neue Stücke würden uraufgeführt, aber nicht von anderen Theatern nachgespielt. „Die Schutzbefohlenen“ stehen nicht nur in Hamburg auf dem Spielplan, sondern auch in Bremen und Freiburg, ab Ende März zudem in Wien und in Oberhausen. Das Kriegsstück „Die lächerliche Finsternis“ läuft zurzeit sogar an fünf Theatern: in Berlin, Essen, Hamburg, Wien und Wiesbaden. Weitere Inszenierungen werden folgen, zum Beispiel schon am Donnerstag eine in Luzern.

Das Stück ist eine blitzgescheite Überschreibung von Joseph Conrads Erzählung "Herz der Finsternis" und Francis Ford Coppolas Film "Apocalypse Now". Geschrieben hat es ein Mülheim-Debütant: der Autor Wolfram Lotz, 33. Er lässt Afghanistan, Afrika und Ex-Jugoslawien ineinander verschwimmen, so dass ein fiktives Krisengebiet entsteht, oder besser: ein Klischeegebiet. In diesem Klischeegebiet machen sich diejenigen lächerlich, die vorgeben, sich nützlich zu machen - die Mitteleuropäer.

Das Auswahlgremium hat natürlich alle Jelinek- und alle Lotz-Inszenierungen gesichtet, die bis heute zu sichten waren. Im Fall von Lotz hat es sich für die Uraufführung des Wiener Akademietheaters entschieden. Der Regisseur Dusan David Parizek veredelt die Vorlage dort noch einmal, auch dank einer der Entdeckungen dieser Spielzeit: der jungen Schauspielerin Stefanie Reinsperger. Gemeinsam schicken sie uns Zuschauer nicht auf Expedition ins Landesinnere eines Krisengebiets, sondern auf Expedition in unsere kollektive Innenwelt.


Oft heißt es
, die Paraderollen für Schauspieler: die Rollen, in denen sie glänzen können, mit denen sie lange in Erinnerung bleiben, seien nur die großen Rollen der klassischen Theaterliteratur. Doch wer Ewald Palmetshofers Drei-Generationen-Drama „die unverheiratete“ gesehen hat, der wird auch diese Auftritte so schnell nicht vergessen: Elisabeth Orth als die Alte, Christiane von Poelnitz als die Mittlere und Stefanie Reinsperger als die Junge. Es sind starke Schauspiel-Frauen. Sie machen Palmetshofers rhythmisierte Kunstsprache zum Ereignis – und sorgen dafür, dass der Zuschauer nicht den Faden verliert in der verworrenen, komplex verstrickten Familiengeschichte. Es ist die Geschichte einer alten Schuld, die sich fortschreibt: die Geschichte kalter, harter, starker Frauen.


Oft heißt es
, die großen Emotionen seien im Kino zu Hause, längst nicht mehr im Theater. Wer „Common Ground“ gesehen hat, wird das nie wieder behaupten. Die Regisseurin und Mülheim-Debütantin Yael Ronen ist mit sieben Berliner Schauspielern ins ehemalige Jugoslawien gereist, darunter fünf, die dort geboren wurden und die es einst in den Kriegswirren aus Belgrad und Sarajevo, aus Zagreb und Novi Sad nach Deutschland verschlagen hat. Die Erlebnisse ihrer Recherchereise stellen sie auf der Bühne nach: roh und direkt, mit schwarzem Humor und derben Späßen, mit Tränen. Kurz: Mit einer Dringlichkeit, die keinen kalten lässt. Auch nicht die abgeklärtesten Kritiker.

Wer „Common Ground“ gesehen hat, glaubt ans Gegenwartstheater.


TOBIAS BECKER

(Sprecher des Auswahlgremiums)