Tobias Appelt

Freier Journalist, Duisburg

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Eine Nacht im Studentenwohnheim in Essen-Kray

Eine Nacht im Studentenwohnheim: Tobias Appelt hat es ausprobiert. Foto: Ulrich von Born

Essen. Über Studentenwohnheime gibt es viele Vorurteile - laute Partys, dreckige Badezimmer und jede Menge Techtelmechtel unter den Bewohnern. Tobias Appelt erlebte eine Nacht im Studentenwohnheim "Meistersingerstraße" in Essen-Kray.

Dass er in einer WG gelebt hat, ist fast zehn Jahre her, und ein Studentenwohnheim nannte Tobias Appelt noch nie sein Zuhause. Um zu erleben, wie Studenten der Uni wohnen, zog er für eine Nacht nach Kray ins Wohnheim „Meistersingerstraße".


17.38 Uhr: Kevin.

Die Zweier-WG, Nummer 115B, wirkt verlassen. „Jemand da?", rufe ich in den Raum. Eine Tür geht auf, mein Mitbewohner erscheint. Er gibt mir die Hand, sagt er heiße Kevin Krafczyk, studiere BWL und sei 22 Jahre alt. „Ich hab gerade einen Lernmarathon hinter mir", sagt er. In den letzten Tagen habe er Klausuren geschrieben, jetzt ruht er sich aus. Auf dem Laptop in seinem Zimmer läuft eine DVD, „Two and a half Men".

Kevin zog vor drei Jahren fürs Studium nach Essen. „Das Wohnheim hier hab' ich mir nicht ausgesucht, ich wurd' hier reingesteckt." Und? „Sagen wir mal, es ist funktional, nicht unbedingt schön." Die allgegenwärtige Weiß-Türkis-Färbung von Tü­ren und Fensterrahmen habe er gelernt zu ignorieren. „Probleme hatte ich nie, nur Mitbewohner, die das Bad nicht putzen, nerven." Und Kontakte zu anderen Hausbewohnern? „Alles ganz unspektakulär, die meisten bleiben unter sich. Ein Wohnheim ist ja nichts anderes als ein Mehrfamilienhaus."

Und wenn man doch Kontakte sucht? „Dann gehst Du am besten in die ,Bierstube'", rät Kevin. „Aber die hat heute zu." Na, toll.


18.15 Uhr: Fenster auf.

Einzug in mein Zimmer. Rollladen hoch, Fenster auf. Klamotten und Schlafsack aus dem Rucksack, Lebensmittel in den Gemeinschafts-Kühlschrank. Mein Reich für eine Nacht: Rund 20 Quadratmeter, Bett, Nachttisch, Kleiderschrank, Stuhl, Sessel, Schreibtisch. Monatliche Miete, inklusive Nebenkosten, ohne Strom: 219 Euro.


19.10 Uhr: Alex.

Bei einem Spaziergang ums Wohnheim treffe ich Alex Kirschbaum (28). Er steht vorm Haupteingang, raucht eine Zigarette. Alex sagt, er sei der Wohnheimsprecher. Hat jemand ein Problem, kommt er zu ihm. „Wie bei einem Klassensprecher." Alex hält Kontakt zum Studentenwerk; dem gehört das Wohnheim schließlich. Er gibt Beschwerden weiter, wenn der Pendelbus zum Campus mal wieder zu spät kommt, oder, wenn die Internetanschlüsse verrückt spielen. Außerdem organisiert Alex die wohnheimeigene „Bierstube". Und die ist doch geöffnet. „Hier können sich die Studenten kennenlernen, aber der Kreis derjenigen, die hingehen, ist überschaubar." Viele verbrächten ihre Zeit lieber in ihren Appartments. „Wir nennen sie die Wohnheim-Leichen." Warum das? „Die könnten als Leiche in ihrem Zimmer liegen und keiner würde es merken." Ach so.


19.40 Uhr: Maria.

Zimmer 605. Eine Ausnahme-WG: Dachterrasse mit Sicht bis zum RWE-Turm, Theke und Barhockern im Wohnzimmer. Hier wohnte früher der Hausmeister, daher sei halt alles etwas luxuriöser als im Rest des Gebäudes, sagt Studentin Maria Knackstedt (22). Auf dem Sofa sitzen vier junge Leute, trinken Bier. Im TV läuft die Sportschau. Maria plaudert übers WG-Leben: „Ei­gentlich wollte ich nie in ein Wohnheim, weil ich immer ein falsches Bild im Kopf hatte: Zehn Mann teilen eine Wohnung mit Klo und Küche auf dem Flur." Jetzt fühle sie sich aber wohl. WG-Leben sei halt auch eine Art Fa­milienersatz. Plötzlich klingelt ihr Handy: „Mama? Hallo! Ich kann gerade nicht."


20.33 Uhr: Magerquark.

Zurück in meinem Zimmer. Kevin macht Abendessen: Magerquark mit Haferflocken. „Ich weiß", sagt er, „kein typisches Studenten-Essen". Dann stöpselt er einen Sandwichtoaster in die Steckdose. Belegt Toast mit Salami und Käse. „Das hier, das ist aber schon typischen Studenten-Essen."


20.45 Uhr: Grill an!

Vorm Wohnheim haben Alex und seine „Bierstuben"-Mitstreiter Sofas und Tische an die frische Luft ge­schleppt und einen Grill aufgebaut. „Wir hatten heute Frühjahrsputz. Das ist unsere Be­lohnung." Es gibt Würstchen, Nackensteak und Kartoffelsalat. Köstlich. „Willst Du auch was?", fragt Alex. Ein Hoch auf die studentische Gastfreundschaft! Ich nehme Platz.


21.15 Uhr: Jonas.

Fitness-Raum im Wohnheimkeller. Cross-Trainer, Laufband, Hantelbank. Biologie-Student Jonas Wegner (21) stemmt Gewichte. „Optisch wirkt der Raum ja eher wie im Knast, aber fürs Training reicht's", sagt Jonas. Drei Mal in der Woche sei er hier, meist abends. „Frauen lassen sich hier selten blicken, die haben andere Erwartungen an einen Trainingsraum." Also nichts dran am Wohnheim-Kontaktbörsen-Klischee? „Doch. Ich hab meine Freundin hier im Haus kennengelernt", grinst er. „Viele Paare finden sich hier."


21.45 Uhr: Ilena.

Wäschekeller. Ilena Kamacharova (26) wartet, dass sie die Waschmaschine entladen kann. „Ich bin mit meinem Studium fertig, morgen ziehe ich aus", erzählt die Medizinerin. Jetzt müsse sie noch Bettzeug und Gardinen waschen, bevor sie am nächsten Tag die Schlüssel abgibt. Bezahlt werden Waschgänge mit Guthaben, das auf dem Studentenausweis, einer Chip-Karte, gespeichert ist. Kosten? „Waschmaschine: Einsfünfzig. Trockner: Auch Einsfünfzig."


21.55 Uhr: Rauchen!

Kurzer Rundgang übers Außengelände. Ne­benan, im Julius-Leber-Haus der Awo, ist eine Party. Der Wind trägt Musik und Gegröle herüber. In einer dunklen Ecke des Wohnheimgeländes stehen zwei Leute. „Seid Ihr Studenten?", frage ich. Nein, nur zwei Teenies, die sich von der Party abgeseilt haben, um heimlich zu rauchen...


22.15 Uhr: Besetzt.

Mein Zimmer. Ich müsste mal ins Bad, aber es ist besetzt. Mitbewohner Ke­vin duscht. Typisches WG-Problem. Also ins Haupthaus, dort gibt es Besucher-WCs.


22.18 Uhr: Heribert.

Der Frühjahrsputz in der „Bierstube" geht weiter. Lehramt-Student Heribert Meyer (26) sorgt für Ordnung hinter der Theke, sichtet Getränke: Whisky, Wodka, Rum, jede Menge Bier... alles da. „Bald soll es hier auch Cocktails geben", sagt Heribert, den alle nur „Harry" nennen, mit Blick auf die Schnapsflaschen. Das Motto laute: „Von Studenten für Studenten". Alles ehrenamtlich und zu günstigen Preisen: „Pils kostet 'nen Euro." Und Sprudel? „Gibt's nicht. Kannst Kranwasser haben."


23.15 Uhr: Alles dunkel.

Streifzug durchs Wohnheim. Ich suche Menschen, finde aber keine. Die Beleuchtung auf den Gängen ist schummrig. Nirgendwo Geräusche. Ich trete ins Freie, blicke auf die Fassade. Die meisten Fenster sind dunkel, nur hinter wenigen flackern noch Fernsehschirme.


23.35 Uhr: Cocktails!

In der „Bierstube" ist noch was los. „Frühjahrsputz ist fertig", verkünde­t Theken-Chef Harry. Jetzt werden Cocktails gemixt. Jonas, der früher am Abend noch im Fitness-Raum trainierte, probiert sich jetzt am Mischen eines „Long Island Iced Tea". „Das Rezept hab' ich eben aus dem Internet geladen."


0.27 Uhr: Da kotzt wer.

Der Lärmpegel der Party im Julius-Leber-Haus, direkt gegenüber meines Schlafzimmerfensters, eb­bt ab. Eine Frau torkelt heraus, zwei Männer stützen sie. Die Frau reiert auf den gepflasterten Weg zum Wohnheim, verliert das Gleichgewicht und landet in dem, was sich zuvor in ihrem Magen befand. Mit diesen Bildern im Kopf einschlafen? Lieber noch mal an die Luft.


0.54 Uhr: Nachtruhe.

Feierabend in der „Bierstube". „Um ein Uhr geht automatisch der Strom aus", erklärt Haussprecher Alex. „Wegen der Nachtruhe." „Ach so, ja, dann ,Gute Nacht'", sage ich. „Quatsch, wir ziehen noch weiter, komm mit."


1.07 Uhr: Tilman.

Mit dem Aufzug ins Dachgeschoss des Wohnheims. Jemand klingelt an einer Wohnung. „Wir gehen zu Tilman", erfahre ich. Tilman, gelbes T-Shirt, lange Dreadlocks, neonblaue Hausschuhe, hat schon geschlafen, müde öffnet er die Tür. Sieben Leute stürzen in seine Wohnung. Ob ihm das nichts ausmache? „Ach, kein Problem, das mach ich ja selbst oft genug bei anderen." Tilman legt eine CD ein. Bässe wummern. Tilman sagt: „Ey, ihr seid ja noch viel zu nüchtern." Hochprozentiges kommt auf den Tisch. Tilman dreht sich einen Joint.


2.28 Uhr: Schlafen.

Letzter Rundgang: Das Wohnheim schläft. Jetzt ist wirklich niemand mehr wach. Auch ich gehe ins Bett. Gute Nacht!

Tobias Appelt

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