Als Lamya Kaddor um kurz nach 13 Uhr die Bühne am Heumarkt betrat, gab sie sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Die Islamwissenschaftlerin ist neben dem Fridensaktivisten Tarek Mohamad die Initiatorin des Kölner Friedensmarsches. Die Verantstalter hatten mit bis zu 10.000 Demonstranten gerechnet, gekommen war zunächst lediglich wenige Hundert. "Schön, dass wenigstens ihr alle da seid", sagte Kaddor deshalb.
Und sie war nicht die einzige, die von der anfangs fehlenden Unterstützung enttäuscht war. Einige Demonstranten schauten sich ungläubig auf dem spärlich besuchten Heumarkt um, die Hundertschaft der Polizei schien auch nicht so recht zu wissen, weshalb man sie eigentlich hierhin beordert hatte. Ratlos wirkte auch die Moderatorin Jacqueline Bakir-Brader. "Ihr Kölner, wo seid ihr denn alle? Es müssten doch viel mehr von euch hier sein", sagte sie. Doch so sehr sie auch appellierte, der Platz vor der Bühne sollte sich erst später füllen.
Möglicherweise lag das auch daran, dass der Friedensmarsch nicht gerade langfristig organisiert war. Erst vor zehn Tagen, sagte Kaddor entschuldigend, habe sie gemeinsam mit Mohamad den Entschluss gefasst, dass sich jetzt etwas ändern müsse. "Wenn Islamisten im Namen unseres Glaubens Menschen töten, massakrieren, terrorisieren, dann passiert das nicht in unserem Namen", sagte sie. Unter dem Motto "Nicht mit uns" sollten, so die Idee, Muslime aus ganz Deutschland ein Zeichen gegen Terror setzen, der in der jüngeren Vergangenheit wiederholt im Namen des Islam verübt worden war.
Deutsche Politiker hatten diesen Schritt begrüßt, auch unter den Muslimen in Deutschland gab es viel Zustimmung. Der Zentralrat der Muslime unterstützte den Aufruf, der Liberal-Islamische Bund, auch die Türkische Gemeinde in Deutschland. Nur der größte Islam-Dachverband in Deutschland, die Türkisch-islamische Union (Ditib), hatte nach langem Hin-und-Her entschieden, sich nicht beteiligen zu wollen. Ditib hatte den Organisatoren unter anderem eine "öffentliche Vereinnahmung und Instrumentalisierung" vorgeworfen. Zudem sei fastenden Muslimen - derzeit ist der islamische Fastenmonat Ramadan - nicht zumutbar, "stundenlang in der prallen Mittagssonne bei 25 Grad zu marschieren und demonstrieren".
Die Initiatoren der Kölner Demonstration zeigten sich empört über die Entscheidung von Ditib. Diese Begründung sei absurd, sagte Kaddor am Freitag im Gespräch mit ZEIT ONLINE. "Muslime gehen ja auch arbeiten oder zum Sport, während sie fasten. Warum also sollten sie nicht am Friedensmarsch teilnehmen können?" Unterstützung erhielt sie aus der Politik. Kanzlerin Angela Merkel etwa ließ über ihren Sprecher aus Berlin ausrichten, die Ditib-Absage sei "einfach schade".
Ganz ähnlich beurteilte das der Kölner Kabarettist, Komiker und Schauspieler Fatih Çevikkollu. "Man braucht keine Verbände, um sich zu verbinden", sagte er zu Beginn seiner launigen Rede auf dem Heumarkt. "Ich bin hier, um mich zu distanzieren. Nicht weil ich es muss, sondern weil ich es will." Mit Terroristen wolle er nämlich genau wie die ganz überwiegende Mehrzahl der Muslime nichts zu tun haben. "Terroristen sind die, die ihren Arsch inmitten von Menschen in die Luft jagen, mit LKWs und Autos in Menschenmengen fahren und nicht mal vor Kindern bei Konzerten Halt machen." Und plötzlich wurde die Menge wach, als hätte Çevikkollu sie geweckt, sie applaudierte und johlte, der Friedensmarsch konnte beginnen - wenn auch mit einiger Verspätung.
Begleitet von den Klängen von John Lennons Friedenshymne Imagine setzte sich der Marsch in Bewegung in Richtung Neumarkt. Einige Demonstranten sangen mit, viele zeigten ihre selbstgebastelten Transparente. Darunter auch Basel, 22, aus Syrien. Er wohne seit zwei Jahren in Wuppertal und habe sich mit einigen Freunden auf den Weg nach Köln gemacht, erzählte er. Auf seinem Schild die Aufschrift "Terror kennt keine Religion". Sein Kumpel Amar, 28, sagte: "Wir wollen doch alle nur Frieden, für unsere Heimat Syrien, für die ganze Welt."
Der Marsch hatte kaum fünfhundert Meter zurückgelegt, da erhielt er moralische Unterstützung aus einer urkölschen Kneipen. Es waren wohl 20 bis 25 Frauen und Männer, die ihren Frühschoppen mit einer kleinen Gesangseinlage verbinden wollten. Unter dem Applaus der Demonstranten und den ungläubigen Blicken unbeteiligter Touristen stimmten sie, stilecht mit Kölsch in der Hand und Narrenkappe auf dem Kopf, den Song "Stammbuch" der Band Black Fööss an. Darin heißt es: "Ich ben Grieche, Türke, Jude, Moslem un Buddhist, mir all, mir sin nur Minsche, vür'm Herjott simmer glich." Oder für alle Nicht-Kölner: Woher jemand kommt, ist doch völlig egal. Wir sind schließlich alle Menschen. "Wir haben gesungen, um den Friedensmarsch zu unterstützen. Das Lied ist doch wie geschrieben für diesen Anlass", erklärt Thomas, ein grauhaariger Endfünfziger, stellvertretend für alle Sänger die Motivation.
Lamya Kaddor hatte Sekunden davor das erste Mal während des Marsches gelacht, vielleicht war Köln als Standort ja doch keine so schlechte Wahl. Womöglich war es die Gesangseinlage, vielleicht aber auch die Tatsache, dass sich mit der Zeit immer mehr Menschen anschlossen, der Friedensmarsch jedenfalls nahm Gestalt an. Als der Zug den Neumarkt passierte, waren es nach Schätzungen der Polizei mehr als tausend Demonstranten, immerhin. Und doch nur ein Zehntel der ursprünglich erwarteten Teilnehmer.
Einige hundert Meter weiter, am Anfang der Kölner Ringe, stand Sabine Wachendorf, 59, und klatschte Beifall. Sie sei bis vor einigen Minuten mitgelaufen, erzählte sie, jetzt wolle sie den Marsch moralisch unterstützen. "Ich finde es einfach gut, dass die Menschen hier mitmachen. Gerade hat mich eine fremde Frau umarmt, nur weil ich den Demonstranten applaudiert habe. Das ist doch toll."
Als der Friedensmarsch knapp eine halbe Stunde später wieder den Heumarkt erreichte, dürfte selbst den Veranstaltern nicht ganz klar gewesen sein, wie sie den Tag bewerten sollten. Zwar kamen weniger Demonstranten als erwartet, dafür hatten sich alle an die vorab festgelegten Regeln gehalten: Keine Flaggen, nur selbstgefertigte Transparente, keine Gewalt und keine Provokationen. Es blieb den ganzen Nachmittag über friedlich und die Polizei musste nicht einschreiten.
Man kann es aber auch wie Ünal, 34, sehen: "Ditib-Absage hin oder her, was zählt, ist doch die Botschaft. Und die ist deutlich rübergekommen: Wir alle haben uns heute eindrucksvoll gemeinsam gegen Terroristen, die im Namen des Islam morden, gestellt."