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Aufbruch in die Neue Welt

Manchmal sitzt Andrew Nibley in seinem kleinen Eckbüro und grübelt. Vom nahen Times Square her dringt das spitze Kreischen Jugendlicher, die vor einem Plattenladen einen ihrer Autogramm gebenden Musikstars empfangen, in die 26. Etage des Bertelsmann Building in New York. Nibley sitzt da und grübelt über ein paar Sätzen, die ihm sein Sohn gesagt hat. Der ist 20 Jahre alt, und Nibley hört auf alle unter 25 - wer älter ist, weiß er aus der Marktforschung, geht kaum noch in Plattenläden, ändert kaum noch seinen Musikgeschmack. Sein Sohn also hat gesagt, es sei schon komisch. Du bist doch einer der Internet-Gurus, Dad, einer, der schon 1993 Strategien für den Online-Erfolg für Reuters gebastelt hat, damals, als kaum einer AOL oder Yahoo kannte. Und doch ist das Internet für dich immer noch eine andere Welt. Wenn du sagst, du warst heute online, dann klingst du wie Oma, die sagt, sie habe heute mit der Tante am Telefon gesprochen oder Clintons Rede im Radio gehört. Wir trennen das nicht, Dad, das Internet gehört zu unserem normalen Leben.

Solche Worte machen Nibley nachdenklich und haben mehr Einfluss auf sein strategisches Denken als, sagen wir, ein Arbeitsessen mit Thomas Middelhoff, dem Vorstandsvorsitzenden von Bertelsmann. Middelhoff ist kräftig dabei, seine Vision zu verwirklichen. Er will Bertelsmann in allen Sparten - Bücher, Buchclubs, Musik und Zeitschriften - im Bereich des Medien-E-Commerce zur weltweiten Nummer eins machen. Nibley soll diese Vision im Musikbereich umsetzen. Getmusic ist eines der Online-Unternehmen, das Modellcharakter für den Wandel des Traditionshauses Bertelsmann zu einem Online-Medienkonzern haben kann.

Thomas Middelhoff, der im Herbst 1998 Chef der Bertelsmann AG wurde, ist mit dem Ziel angetreten, das große angestammte Geschäft des Gütersloher Medienriesen, Buchverlage, Bücherclub und Fachinformationen, Musik und Filme, auf den elektronischen Vertrieb auszurichten. Alte und Neue Wirtschaft sieht er dabei nicht als Gegensatz. Und auch, dass viele Mitarbeiter, zumal in Gütersloh, dem Tempo ihres jungen Chefs nicht immer folgen mögen, hält ihn dabei nicht auf. Die Bertelsmann-Beteiligungen in den Vereinigten Staaten - das US-Geschäft steuert bereits mehr als ein Drittel zum Unternehmensumsatz bei - sollen dem Restkonzern dabei den Weg weisen.

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Nibleys Arbeit ist deswegen wichtig, weil die Musik bei Bertelsmann - neben den Buchclubs - seit Jahren als Sorgenkind gilt. Die Umsatzrendite liegt unter zehn Prozent und damit weit unter der Konzernvorgabe von 15 Prozent. Dass das weltweite Wachstum nun erstmals seit acht Jahren in diesen Sparten Anlass zu Hoffnung gebe, verdanke man vor allem dem Internet, sagt Middelhoff.

Was die absoluten Verkaufszahlen an Alben betrifft, mische die Bertelsmann Music Group () in den USA ganz vorne mit, sagt BMG-Chef Strauss Zelnick. Immerhin habe BMG in den vergangenen fünf Jahren ihren Marktanteil von 12,5 auf 20,5 Prozent gesteigert. Dennoch liegt BMG im Vergleich mit den anderen Großkonzernen wie Warner-EMI, Sony und Universal weltweit abgeschlagen auf dem vierten Rang.

Die Nummer eins im weltweiten Musikgeschäft kann Bertelsmann nur durch eine Übernahme werden: Universal wäre ein passender Partner, nicht nur wegen der gemeinsam geführten Website Getmusic. Der Medienkonzern steht nach Informationen des Wall Street Journal tatsächlich zum Verkauf. Allerdings will dessen Eigentümer, Edgar Bronfman Jr., nur unter der Bedingung abgeben, dass der Käufer auch die Spirituosen des kanadischen Mutterhauses Seagram nimmt - und ihn selbst weiter als leitenden Manager beschäftigt. In den Spirituosenhandel will in Gütersloh freilich niemand einsteigen.

Nibley hat nach der Übernahme des Vorstandsvorsitzes von Getmusic vor sechs Monaten aus dem CD-Online-Laden eine Website gemacht, die viele Sites einzelner Popmusiker bündelt. Sie informiert über die Kleidervorlieben der BMG-Stars Britney Spears und Christina Aguilera, bietet elektronische Autogrammkarten, Klatsch und Tratsch und Interviews aus der Popszene. Getmusic soll im Internet das werden, was MTV im Fernsehen ist. Spät scheint nun Bertelsmann einer Erkenntnis zu folgen: Dass attraktive Websites bieten muss, wer die Leute in seine virtuellen Kaufhäuser ziehen will. Der gelernte Agenturjournalist Nibley, der früher aus dem Weißen Haus berichtete, hat daher zahlreiche Online-Journalisten von namhaften Publikationen wie Rolling Stone angeheuert, und er behauptet, Getmusic funktioniere wie eine Zeitung. "Es gibt eine chinesische Mauer zwischen Redaktion und Geschäft. Das ist sehr wichtig. Wenn wir erfolgreich sein wollen, dürfen wir nicht wie ein Marketingvehikel aussehen." Synergie sei wichtig, aber nicht bestimmend, sagt auch Zelnick: "Sollten unsere eigenen Hits eines Tages nicht mehr unter den Top Ten zu finden sein, wären wir dumm, wenn wir dennoch BMG-Titel ganz nach vorne stellten."

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