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Feature

Der Charme des Unperfekten

Ein Besuch beim deutschen Meister in einer Randsportarbeit


“Papa, das darf doch nicht wahr. Du bis 50 Jahre alt und warst noch nie beim Boxen?”. Die Reaktion meines Sohns war eindeutig. Ich hatte ihm gerade angekündigt. dass ich nach Thüringen fahren werde, um den ersten Boxkampf meines Lebens zu sehen.


Den ersten Boxkampf meines Lebens stimmt ja nicht ganz. Auch ich gehöre zu den Kindern, die in den 70er Jahren vorschlafen mussten, um dann nachts die Schwergewichtstitanen Muhammed Ali, Joe Frazier oder George Foreman sehen zu dürfen. Auch ich war dabei, als RTL, Henry Maske und Werner Schneyder das Boxen aus der Schmuddelecke holten. Aber live war ich eben noch nie dabei.


Überhaupt Werner Schneyder, sein Essay im Playboy über die Ästhetik des Faustkampfs ließ mich das Boxen aus einer anderen Perspektive sehen. Und natürlich Berthold Brecht und seine Loblieder auf den Faustkampf. Aber wie gesagt, ich war noch nie live dabei. Das sollte sich nun ändern.


Der letzte Teil der Anreise gestaltete sich schwierig. Der Veranstaltungsort entpuppte sich als Halle, die in Mitten von Reihenhäusern und Mietskasernen des 19. Jahrhunderts liegt. Parkplätze sind hier Mangelware, vor allem bei solch einem Andrang wie an diesem Abend. Boxen mag eine Randsportart, aber sicher nicht hier. Später wird der Hallensprecher verkünden, dass die Halle ausverkauft ist, wieder einmal. Der örtliche Fußball-Regionalligist wäre mit der Hälfte des Zuspruchs mehr als zufrieden.

Der Pressesprecher

Ich hatte mich beim Pressesprecher angekündigt. Vor Ort sollte ich kurz durchklingeln, dann würden wir uns vor der Halle treffen. Vor Ort lass ich kurz durchklingeln, doch es meldet sich nur die Voicebox. Also zur Abendkasse. Dort gib es die erste Überraschung. Die Türseher sind in Sakko und Krawatte gekleidet. Hellgrauer Schlips zu schwarzem Sakko und schwarzes Hemd. Die erwartete Ballonseide sehe ich an diesem Abend ohnehin nur einmal, bei einem Caterer, der im Laufe des Abeds noch einmal schnell für den Nachschub am Würstchenstand sorgt.


Boxern hat in Deutschland immer noch ein Malocher-Image. Deswegen ist es wohl um so wichtiger, dass sich die Offiziellen und Halboffiziellen kleinbürgerlich kleiden. Das gilt auch fürs publikum. Der Dresscode liegt an diesem Abend irgendwo zwischenAlltag und ein wenig fein gemacht. Das gilt vor allem für die Frauen im Publikum. Überhaupt die Frauen, deren Quote liegt an diesem Abend bei geschätzten 40 Prozent. Da ist wohl nicht viel mit Macho-Sport.


Aber vielleicht ist es auch eine Ost-West-Geschichte. In der BRD wurde Boxen traditionell mit St. Pauli, Ritze, Rene Weller  und Graciano Rocchigiano assoziiert, in der DDR war es ernsthafter Sport.


Ich treffe den Pressesprecher an der Abendkasse. Die besteht aus einen Küchentisch mit Tischdecke, dahinter zwei Damen und eine Geldkassette und ein Block mit Eintrittskarten. Kein Ticketdrucker, keine Drehscheibe, kein Kartenlesegeräte, bezahlt wird bar. Wohl gemerkt, ich besuchte an diesem Abend den amtierenden Deutschen Mannschaftsmeister.


Peter und ich, wir sind gleich per du. Im Gegensatz zu seiner Security trägt er kein Sakko. Auf meine Frage, ob es denn einen Pressebereich gibt, schaut er mich erst erstaunt an und antwortet dann: “Nee, setz’ dich einfach dahin, wo Platz ist”. Das mache ich dann auch. An den unkomplizierten Umgang muss ich mich noch gewöhnen. In Zeiten, in denen selbst drittklassige Eishockey-Teams schon mit VIP-Logen arbeiten, erscheint dies wie eine Reise in die viel beschworene und vermeintlich gute alte Zeit.


Die Heimstätte

Ballspielhalle. Die Heimstätte des Deutschen Meister  entpuppt sich als alte Industriehalle, die wohl mal als “Aufbau Ost” zur Sporthalle aufgehübscht wurde. Es gibt keine Gemeinsamkeiten mit den stylishen Multifunktionsarenen, die überall aus dem Boden schießen, um Handballmannschaften aus den Oberligen zu beherbergen. Einiges wirkt hier immer noch improvisiert. Die Tribünen an der Längsseite sind gerade mal drei Sitzreihen hoch. Auf alle Fälle ist es warm hier drin, sehr warm.


Filzteppich in langen Bahnen schützt den Boden. Wer hat den Teppich verlegt und verklebt? Wer hat die knapp 1.000 Stühle aufgestellt und ausgerichtet?


20 Fuß im Quadrat, von drei Seilen in den Vereinsfarben und etwa 1,20 Meter über dem Hallenboden. So sehen aus die Bretter aus, die für Boxer die Welt bedeuten.Das Geviert ist in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht.  Dass jemand auf die Bretter geschickt wird, das ist im Amateursport eher ungewöhnlich.


Die Hintergrundmusik schaltet um auf “Eye of the Tiger”. Es geht wohl los. Der Moderator betritt den Ring, das Mikrofon wird herabgelassen. Der Mann Mitte fünfzig ist ebenfalls in Sakko und Krawatte gekleidet. Er versucht gar  nicht, den Michael Buffer zu machen und das ist auch ganz gut so. Die Akustik ist alles andere als meisterlich. Das stört aber die wenigsten, denn man weiß ja was jetzt kommt. Der Abend beginnt mit einer langen Reihe von Begrüßungen. Ehrungen gibt es auch noch. Zwei Sportfreunde erhalten goldene Teller und Blumen für mehr als 50 Jahre Engagement für den lokalen Boxsport.


Fernsehtauglicher Boxsport wird von C-Promis und Dschungelcamp-Teilnehmern dominiert. Hier ist die Gästeliste wenig illuster. Der Mann im Ring begrüßt den Spielmannszug aus der Partnerstadt, einen Fanclub aus Hessen, den Landrat und die Stadtverordnete für Sport.


Und natürlich den Gegner aus Hannover, den BSK Hannover-Seelze. Die Hinrunde ging nach fragwürdigen Entscheidungen denkbar knapp an die Niedersachsen, berichtet Pressesprecher Peter. Damit steht die Titelverteidigung für den Gastgeber auf der Kippe. Ausrutscher kann man sich in der Box-Bundesliga nicht leisten. Also muss heute Abend unbedingt ein Sieg her.


Trotz der Brisanz ist die Stimmung in der Halle erstaunlich entspannt. Vereinzelte Pfiffe, das war es auch schon. Aber eine kleine Rache hat der Mann am Mikrofon doch noch. Den ganzen Abend wird er nur von “Sellze” sprechen. Konsequent verweigert er das für Niedersachsen so überlebenswichtige überlange “EEEE”.


Die Musik schaltet um auf das Rocky-Thema. Das Licht in der Halle geht aus. Die Mannschaften werden vorgestellt. Zweimal werden sieben Namen und Statistiken auf gerufen. Die Gäste setzen auf irische Boxer, die Gastgeber auf Osteuropa. Boxen ist eine Randsportart in Deutschland, aber immerhin attraktiv genug für Sportler von auswärts. Mit den Namen kann ich nichts anfangen, nur wenige kann ich mir bis zum Ende des Abends merken. Zum Teil liegt es wohl auch an der schelchten Akustik. Aber die Unterscheidung ist einfach. Die Lokalmatadoren kämpfen in blau, die Gäste in rot. Eine ganze Reihe von Landesmeistern werden an diesem Abend in den Ring steigen. Doch das dauert noch.


Das Vorgeplänkel

Box-Fans müssen Geduld haben. Es geht noch lange nicht los. Erst zeigen zwei Mädchentruppe, was sie so an Modern Dance gelernt haben. Da kommen zwei Vorkämpfe. Eine Lokalmatadorin boxt gegen eine Sportlerin aus der Partnerstadt. Der Kampf ist schnell vorbei. Die Ringrichterin bricht den Kampf in der zweiten Runde ab. Sie musste die Faustkämpferin in rot-weiß dreimal anzählen. Der Sieg geht an die Gastgeber, der Abend fängt gut an.


Ach ja, eine vierte Dame wird mich und den anderen tausend Zuschauer den ganzen Abend begleiten. Das Nummerngirl. Doch, so etwas gibt es wirklich. Die hiesige Ausgabe hat ihre prallen Formen in ein enges Lederkleid gezwängt. Zu den Stilettos trägt sie Plastik-rotes Haar und während sie die Anzeigentaflen durch den Ring trägt, setzt sie ein Gesicht auf wie Adrian in “Rocky I”. Wenn es ihr keinen Spaß macht, wartum macht sie es dann? Bis zum Schluss werde ich keine Antwort auf diese Frage finden. Mein Sitznachbar weiß immerhin, dass solche Frauen sowieso und überhaupt kein Genuss sind. Woher er das weiß, auch dies bleibt mir letztendlich verwehrt. Aber immerhin kann seine Gattin ihn nur bestätigen.


Dann werden die beiden Bochumer rechts von mir nervös. Sie kennen den jungen Mann, der gleich in der Alterklasse 17/18  kämpfen wird, persönlich. Gleiches gilt für die Russen links von mir, nur dass sie eben den Lokalmatador anfeuern.


Von der Ästhetik des Gentleman Maske ist die Jugend noch meilenweit entfernt. Ständig sind die Nachwuchskräfte im Infight, im Clinch. Immer wieder muss der Ringrichter eingreifen, die Kontrahenten ermahnen. Schön ist etwas anderes.


Im Publikum sitzt eine ganze Reihe von heimlichen Co-Trainer. Aus allen Ecken werden Anweisungen und Tipps in den Ring gerufen. Keiner der beiden setzt sie um. Es folgen ungestüme Attacken von beiden Boxern, das Publikum geht mit. Doch eben so schnell ist es auch vorbei. Die Punktrichter entscheiden den Kampf, dieses Mal geht der Sieg an die Gäste.


Es dröhnt wieder “The Eye of th Tiger” aus den Boxen. Nach einer Stunde Vorgeplänkel kann es endlich losgehen. Wie oft werde ich an diesem Abend diesen Nervtöter eigentlich noch hören? Wer oft genug in der Ballspielhalle ist, der muss immun gegen Survivor sein.


Dann geht es immer noch nicht los. Der Mann in blau kann nicht antreten. Er hat sich beim Aufwärmen am Fuß verletzt. Ich dachte bisher, so etwas gibt es nur in Vorabend-Serien. Schon wieder wurde ich eines Besseren belehrt. Kampflos geht “Sellze” in Führung, der Titelverteidiger liegt hinten und auch die Vize-Meisterschaft gerät in Gefahr.


Nun schicken die Roten zwei Iren in den Ring. Auch ein Laie wie ich sieht auf Anhieb, das die Jungs von der grünen Insel das Heft in die Hand nehmen. Um das zu erkennen, brauche ich keinen weisen Kommentar von Werner Schneyder.


Der Rückstand

Das Publikum wird immer stiller und auch bei den Bochumer rechts von mir werden die Gesichter immer länger. Die Russen zur Linken beschäftigen sich immer intensiver mit ihren Smartphones und mit ihren Begleiterinnen. Nur noch vereinzelt rufen die heimlichen Co-Trainer Anweisungen in das weite Rund. Es sind wohl Anweisungen in irgendeiner osteuropäischen Sprache. Ich kann aber nicht sagen, in welcher.


Selbst ein Laie wie ich erkennt noch zwei weitere Dinge auf Anhieb. Erstens ist das hier jetzt echter Sport, um Klassen besser als die Vorkämpfe. Das Tempo ist viel höher, es gibt jede Menge taktischer Manöver, die ich zwar nicht benennen kann, die aber auch dem ungeübten Auge offensichtlich werden. Mein gepflegtes Desinteresse und die professionelle Neugier schlagen in echte Begeisterung um. Ich komme mir vor, wie ein kleiner Junge, dem sich eine ganz neue Welt auftut.


Denn es git ja noch eine zweite Entdeckung. Jeder Ringsrichter schiezt anders. Doch, es gibt den distanzierten Zuschauer, der den Kampf mit wenige Gesten aus der Ferne dirigiert. Es gibt den engagierten Dazwischengeher, der dicht an den Kämpfern dranbleibt. Es gibt den Genau-Hingucker, der auch gern mal ermahnt und es gibt wohl noch einige Zwischentypen. Sind Ringrichter die verkannten Künstler des Boxports? Auch auf diese Frage finde ich an diesem Abend keine Antwort.


Es geht auf die Pause zu und meine neuen Freunde aus Bochum werden immer nervöser, denn gleich kommt ihr Auftritt mit dem Posaunenchor. Die Aussicht auf Livemusik der rustikalen Art kann meine Stimmung nicht wirklich heben. Drei Kämpfe, drei Niederlagen und die Titelverteidigung scheint in unerreichbare Ferne gerückt. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht.


Die Verpflegung

Zeit für ein Bier. Ich muss erst ein wenig suchen, bis ich den Verpflegungsstand finde. Kein Schnickschnack, der Charme eines Dorfgemeinschaftshaus, ein einfache Theke. Die Speisekarte ist überschaubar, kein Tapas. Das einzige Fingerfood ist die Bockwurst mit Brötchen, es gibt auch die Luxusversion mit Kartoffelsalat zum Preis von 2,50. In den Stadien der Fußball-Bundesliga gibt es für den Preis höchstens ein trockenes Brötchen.


Die Getränkekarte führt nur Kaltgetränke auf. Es sind die üblichen Verdächtigen: Bier, Cola, Orangenbrause und Ztironenlimonade. Bier und Limonade werden auf Wunsch auch zum Radler vermischt. Das wars.


Das große Bier kostet 2,50 Euro, das vereinfacht das Rechnen. Ausgeschenkt wird in pfandfreie Plastikbecher und bezahlt wird in bar. Keine Lesegeräte, kein Aufladen der nichtexistenten Wertkarte. Nur zur Erinnerung: Ich bin beim amtierenden Deutschen Mannschaftsmeister.


Die vier Stehtische sind dicht besetzt. Die lauten Gespräche verraten die Vertrautheit der Thekenbesucher. Man kennt sich und man weißt, was der andere beim letzten Heimkampf gemacht hat. Es sind die Frötzleien, die man sonst nur auf Familienfeiern oder in der Betriebskantine beheimatet sind.


Der Posaunenchor nutzt die Gelegenheit aus. Er spielt sein komplettes Programm und aus den angekündigten zwanzig Minuten werden fünfundvierzig. Die 300 Kilometer und viereinhalb Stunden Anreise mit dem Bus müssen sich ja lohnen.


Da dröhnt wieder das Tigerauge durch die Halle. Jeder weiß: Es geht weiter. Die Dramaturgie der Boxerfilme ist seit “Rocky” immer wieder dieselbe. Der Held bekommt viel, sehr viel auf die Mütze, an den Kopf, auf die Nase, die Augen und in den Magen. Aber als der Trainer schon das Handtuch werfen will, da rappelt sich der Held auf. Er trifft ein ums andere Mal, der Gegner sackt zusammen und zum guten Schluss gibt es einen glanzvollen Sieg. So weit die dramaturgische Theorie.


Wunderbar

In der Praxis stürmt der Mann in blau drei Runden lang nach vorne. Er hat die Halle im Rücken und macht einen Punkt nach den anderen. Die Richter votieren eindeutig für den Lokalmatador. Peter wird in seiner Pressemitteilung zwei Tage später von einer Wendemarke sprechen, den Begriff Kampfgeist bemühen und von einem hart erkämpften, aber verdienten Sieg sprechen.


Doch, es ist wie in den Boxerfilmen seit “Rocky I”, wirklich. Die Männer in blau sind oben auf und die Roten total von der Rolle. Auch die drei abschließenden Auseinandersetzungen können die Gastgeber für sich entscheiden. Die Russen links von mir, die Bochumer rechts von mir, die ganze Halle tobt. Das versteht man unter Heimkampf. Bei aller Begeisterung bleibt das Publikum fair. Die Schmähungen für den Gegner, die im Eishockey zum guten Ton gehören, bleiben aus. Randsportart ist nicht gleich Randsportart.


Das kleine Wunder findet statt. Am Ende steht ein 11:10 für den Gastgeber zu Buche und damit ist eine Titelverteidigung wieder möglich. Es fehlt nur noch ein Sieg am letzten Kampftag. Doch da muss man zum Tabellenführer und es werden vier Spitzenkräfte fehlen, wegen internationaler Verpflichtungen. Bundesliga und Länderspiel am selben Tag, manchmal kann Unprofessionalität auch weh tun.


Doch das interessiert an diesem Abend niemand. Es wird gefeiert, der knappe Sieg und die Revanche für das umstrittene Ergebnis in der Hinrunde und die Vize-Meisterschaft, die jetzt schon klargemacht wurde. Auch draußen wird es laut, mitten im Wohngebiet und kurz vor Mitternacht. Doch das stört an diesem Abend niemand. Schließlich ist das hier Box-Land.