Thomas Beschorner

Prof.denkt.schreibt, St.Gallen

1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Klimaaktivismus: Ohne Störenfried kein Fortschritt

Mit der Kriminalisierung der Klimabewegung machten Politik und Justiz es sich viel zu einfach, schreibt Thomas Beschorner im Gastbeitrag: Vielmehr bräuchten wir die Störenfriede gegen das Verdrängen und die Bequemlichkeit. Beschorner ist Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen in der Schweiz.

Erst waren es wahlweise Vorspeisen oder Stärkebeilagen, die gegen Kunstwerke flogen. Es folgten Klebeaktionen auf Straßen, die Besetzung von Flughäfen sowie weitere Aktionen der Letzten Generation in den vergangenen Tagen. Die Kids nerven! Auch wenn einige schon über 60 sind, so bleibt es doch bei dieser Wahrnehmung.

Die Politik reagiert verschnupft auf die Klimaaktivistinnen, sieht durch sie eine Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und regt gar die Prüfung der Gruppe als "kriminelle Vereinigung" an. Am Dienstag gab es nun Razzien in den Wohnungen von Mitgliedern der Letzten Generation in mehreren Bundesländern.

Diese Vorgehensweise ist ein charakteristischer Reflex aus weiten Teilen der Politik und Teilen der Medien auf die Aktionen der Klimaaktivisten in empört legalistischer Form: Das ist verboten, das unterbricht die normalen Abläufe des Alltags und stört die gesellschaftliche Ordnung. Wir kennen das von den Freitagsstreiks von Schülerinnen und Schülern, die erst belächelt wurden und bei denen dann, als sie zu viel Aufmerksamkeit gebunden hatten, schnell juristisch argumentiert wurde: Die Kinder gehören zurück in die Lehranstalt - Schulpflicht!

In den Wissenschaften herrscht seit Jahren Einigkeit

Wir machen es uns hier wie dort mit einer oberflächlichen Law-and-Order-Argumentation zu leicht, denn eine tieferliegende Frage ist ja: Ist denn alles in Ordnung in unserer öffentlichen Ordnung?

Nicht nur die Antwort der Klimaaktivistinnen lautet klar und laut: Nein! Auch in den Wissenschaften besteht seit Jahren Einigkeit darüber, dass die Zukunft der Gesellschaft angesichts der drohenden Klimakatastrophe verheerend werden kann. Deshalb gibt es das völkerrechtlich vereinbarte Ziel, den Temperaturanstieg auf "deutlich unter zwei Grad" begrenzen zu wollen. Das gilt für alle unterzeichnenden Länder, also auch für Deutschland. Und wer sich gerne an Rechtsnormen orientiert, dem sei zudem empfohlen, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021 zur Kenntnis zu nehmen, das festhält: "Der Gesetzgeber hätte Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freiheitsschonenden Übergangs in die Klimaneutralität treffen müssen, an denen es bislang fehlt."

Die Geschichte von Gesellschaften ist immer auch die Geschichte der Störenfriede, die sich über eine geltende Ordnung hinwegsetzen, Grenzen überschreiten und damit gesellschaftliche Normalitäten stören. Der Philosoph Dieter Thomä hat diese Figur vor einigen Jahren philosophisch gekonnt rekonstruiert und die Gesellschaft als eine Schwellenveranstaltung charakterisiert, in der es um Spannungen zwischen Ordnung und Störung geht.

Es liegt dabei in der Logik der Sache, dass die Störer einer gegebenen Ordnung an den Rand gedrängt werden. So war es mit bei den Protestbewegungen der Studierenden in den Sechzigerjahren, die verkrusteten Strukturen den Kampf angesagt hatten, der Frauenbewegung, die die Familienordnung störte, oder bei der Antiatomkraftbewegung in den Achtzigerjahren. Und wir erleben es aktuell ebenso bei den Protesten im Iran wie bei der Letzten Generation. Zu den Geschichten und der Geschichte dieser Bewegungen gehört auch, dass sich die Schwellen des Abweichens stückweise vergrößern, je nachdem, wie auf Impulse reagiert wird. Sich selbst und den straffreien Lebenslauf riskieren, ist sicher nicht der erste gewählte Schritt von Aktivistinnen.

Die Aktivisten fordern die Einhaltung und Verschärfung von Gesetzen

Soziale Bewegungen wollen etwas in Bewegung bringen, rufen zu einer neuen Ordnung auf. Das mögen naturgemäß diejenigen nicht, die sich in der etablierten Ordnung wohlfühlen und an ihr festhalten wollen, weshalb es zu Widerständen kommt. In autoritären Regimen und Tyranneien werden Störenfriede durch Ermordungen, Verschleppungen oder Inhaftierungen nicht selten schlicht ausradiert.

In Demokratien pflegen wir einen anderen Umgang, der sich üblicherweise mit rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien verbindet. Der Störenfried ist auch in der Demokratie kein Lieblingskind, sondern gilt eher als der Rotzlöffel, mit dem man immer Scherereien hat. Auch hier begegnet man ihm mit Gewalt, gleichwohl in ziviler Art und Weise. Man spricht "Ordnungswidrigkeiten" aus, schließlich hat er oder sie sich wider der gegebenen Ordnung verhalten. In einer "Beugehaft" soll man sich der Ordnung beugen - ab in die Knie. Für die Ordnung in einer demokratischen Gesellschaft können diese und andere Formen der Staatsgewalt zweifellos wichtig sein.

Die Pointe freilich ist, dass es Demokratien ohne Störenfriede nie gegeben hätte. Demokratie ist vielmehr die legitime Erbin von manch lauten und mutigen Stimmen der Vergangenheit, die Gewohnheiten und Privilegien hinterfragten.

Die Letzte Generation, wie andere soziale Bewegungen vor ihr, wird nicht nur juristisch und politisch an Ränder gedrängt, auch medial und in sozialen Netzen wurde kräftig ausgeteilt. Man scheute sich wegen einer Dose Tomatensuppe an einem (ohnehin geschützten) Gemälde nicht von einem Angriff auf Kunst und Kultur insgesamt zu reden, sprach schnell von Klimaterroristen, sah ein Radikalisierungspotenzial hin zu einer neuen "Grünen-RAF" und sonst noch was. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass diese Bewegung sich in ihren Forderungen eben nicht gegen bestehende Gesetze oder Rechtsordnungen wendet, sondern deren Einhaltung und Verschärfung einfordert.

In unserer Ordnung ist nicht alles in Ordnung

Dass diese Reaktionen so schnell und heftig ausfielen, ist bemerkenswert, besonders wenn man sie mit dem Umgang mit anderen Gruppen in den vergangenen Jahren vergleicht, die sich weder um wissenschaftliche Evidenz scheren (radikale Corona-Leugner und Verschwörungserzählgruppen aus anderen Bereichen beispielsweise) noch demokratische Werte schätzen, diese sogar bekämpfen wie die Reichsbürger.

Für Politiker und Politikerinnen eines breiten Spektrums steht jedoch fest: Durch die Störungen der Klimaaktivisten ist "jede Grenze legitimen Protests überschritten" (Nancy Faeser). Und deshalb soll nun geprüft werden, ob die Letzte Generation nach dem Strafgesetzbuch als "kriminelle Vereinigung" bestimmt werden kann. Dem wurde mit den Hausdurchsuchungen bei den Aktivistinnen nun Nachdruck verliehen. Auch wenn es keine Verhaftungen gab, so kann dennoch ein gewisses Maß psychologischer Maßregelung angekommen werden, denn das Durchwühlen des eigenen Kleiderschrankes oder des Computers durch Dritte ist nicht angenehm. Chilling-Effekt nennt man das in der Fachsprache.

Man reibt sich ob des Tamtams gegen die Letzte Generation verwundert die Augen und fragt sich, was es im Kern eigentlich damit auf sich hat, gerade auch weil die Klimaaktivisten ja ein sehr legitimes Grundanliegen verfolgen. Eine mögliche Erklärung dafür, warum sie von bestimmten politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten derart hart attackiert werden, könnte genau darin liegen, dass sie ein legitimes Anliegen verfolgen – und zwar nicht nur für sich, sondern für eine zukunftsfähige Gesellschaft insgesamt.

Bis vor Kurzem wurden die Schulstreiks noch belächelt

Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, auf den zweiten Blick aber ein wenig Licht in eine zweifelhafte Veranstaltung bringen. Diese Störenfriede scheinen der geltenden Ordnung zunehmend auf den Pelz zu rücken, indem sie Wertvorstellungen, Lebensformen, Gewohnheiten und eine Wirtschaftsweise, die wir Kapitalismus nennen, durch das Aufzeigen von Konsequenzen delegitimieren wollen. 

Das haben vor ihnen andere gemacht, aber inzwischen resoniert die Dringlichkeit der artikulierten Probleme auch in einer breiteren Bevölkerung ebenso wie bei einer Vielzahl gesellschaftlicher, teilweise auch wirtschaftlicher Akteure merklich besser. Die gestern noch belächelten Schulstreiks sind inzwischen zu einem Dance mit dem System geworden. Ein geselliger Schwof ist das nicht. Und die Aufforderung zum Tanz lautet eben auch nicht mehr: "Darf ich bitten?"

Warum? "Die sitzen uns einfach aus" war einer der häufigsten Sätze, die von bis dahin unermüdlich und ordnungskonform demonstrierenden jungen Menschen geäußert wurde, als ein neues Klimagesetz wieder einmal nicht mit den Zielen von Paris zusammenpasste. Und dem wollen sich die Klimaaktivistinnen nicht "ausgesetzt" sehen. Deshalb sitzen sie auf unseren Straßen.

Die Politik wähnt sich auf dem rechten Weg

Was wir in den vergangenen Wochen eindrücklich beobachten konnten, ist die Gegenwehr der geltenden Ordnungen gegenüber den Störern in einer Form, die eher einer famosen Inszenierung denn politischer Vernunft gleicht. Politik wähnt sich mit einem harschen Blick auf die Aktionen und der Prüfung einer Kriminalisierung der Klimabewegung auf dem rechten Weg. Expertinnen und Experten aus der Sozial- und Extremismusforschung hingegen sehen kein Radikalisierungspotenzial. Und in einem ähnlichen Sinne formuliert Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz: "Das sind tatsächlich auch Straftaten. Das kann man nicht wegdiskutieren. Aber das Begehen von Straftaten macht diese Gruppierung jetzt nicht extremistisch."

Parteiübergreifend ist das ebenso eine Meisterleistung des Ignorierens evidenzbasierter Einschätzungen aus den Wissenschaften wie mangelndes Gespür für das Politische jenseits einer "reinen" Idee von Ordnung in legislativer Manier. CDU-Parteichef Friedrich Merz meint gar, mit Klimaschutz hätten die Aktionen der Gruppe "nichts zu tun".

Einige Akteure dürften diesen Tanz (medial) aktiv gestaltet haben, andere haben sich schlicht in die Polonaise eingereiht. Gleichgültig, ob es das eine oder das andere ist, es sind Phänomene, die zwar nicht unüblich sind, uns aber in demokratischer Hinsicht nachdenklich stimmen sollten. Und noch bedenklicher ist manch radikaler Umgang mit den Anliegen einer jungen Generation, der demokratische Teilhabe im Kern schlicht nicht versteht.

Die Kids nerven. Ja, sie sollten uns nerven! Denn klaffen Anspruch und Realität zu weit auseinander, dann sind es Störenfriede der Bequemlichkeit und des Verdrängens, die uns in Bewegung halten und uns innovativ, mutig oder erwachsen werden lassen. Denn nüchtern betrachtet: In unserer Ordnung ist nicht alles in Ordnung.



Zum Original