Thomas Beschorner

Prof.denkt.schreibt, St.Gallen

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Ökonomie: Wir müssen über Gerechtigkeit diskutieren

Der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, hat ein Großthema für den Wahlkampf und die Politik der Sozialdemokraten ausgerufen: Gerechtigkeit. Es dauert nicht lange, da nehmen Ökonomen dieses Thema aufs Korn. Marcel Fratzscher, Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), beispielsweise provoziert in einer aktuellen Kolumne für ZEIT ONLINE mit der These: "Die Frage der Gerechtigkeit ist nicht diejenige, um die es jetzt gehen sollte." Stattdessen sollte es um einen "Wohlstand für alle" gehen.

Thomas Beschorner

ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.

Solche Positionen sind nicht neu und hätten auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges oder in den 1970er Jahren formuliert sein können. Denn die Geschichte, die Ökonomen gerne erzählen, ist die des Kuchens, der größer gebacken werden müsse (Milton Friedman), damit der Zusammenhalt der Gesellschaft gesichert sei - "Wohlstand für alle" (Ludwig Erhard) eben. Realisiert werden soll dies zum Beispiel über Bildungsoffensiven, die es ermöglichen, gut ausgebildete Fachkräfte "in den Arbeitsmarkt zu bringen", womit sie dann fleißig zum Bruttosozialprodukt beitragen und "Eigenverantwortung ausüben können" (Fratzscher).

Es geht damit, anders formuliert, um die Schaffung oder Verbesserung des Produktionsfaktors Arbeit, neudeutsch: Human Resources. Alles wird gut, so das quasireligiöse Heilsversprechen von Ökonomen, wenn wir den Wohlstand aller steigern. Es überrascht vor dieser Kulisse wenig, dass Ökonomen eine gesellschaftliche Gerechtigkeitsdiskussion tendenziell für überflüssig halten.

Zusammenhalt hängt nicht nur vom Wohlstand ab

Die vorgetragene Argumentation führt jedoch bei genauerer Betrachtung schnurstracks an relevanten gesellschaftlichen Fragen vorbei. Der enge Blick durch die ökonomische Brille, mit der man nicht sehen kann, was man nicht sehen darf, übersieht nämlich: Der Zusammenhalt einer Gesellschaft hängt nicht nur vom gesellschaftlichen Wohlstand ab, sondern ist auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit.

Wenn die "schöpferische Zerstörung" (Schumpeter) nicht nur die Märkte durcheinanderwirbelt und Innovationen schafft, sondern auch Karrieren und persönliche Lebensentwürfe zerstört, helfen "Wohlstand für alle"-Slogans nicht wirklich; die betroffenen Menschen fühlen sich abgehängt, sie empfinden ihre Situation als ungerecht.

Fragen sozialer Gerechtigkeit sind subjektiver Natur. Es geht also um eine von den Menschen wahrgenommene Gerechtigkeit, und diese betreffen nicht nur das ökonomische Auskommen. Dieser Sachverhalt mag es für die traditionellen Wirtschaftswissenschaften schwierig machen, das Thema mit ihrem traditionellen Instrumentenkasten zu bearbeiten. Aber sind damit die kulturellen Sinndeutungen, die Interpretationen der Menschen in ihren spezifischen sozialen Kontexten für ein Verstehen und Gestalten von Gesellschaft irrelevant?

Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten in den USA ist ein instruktives Beispiel: " Make America Great Again" war bekanntlich der Slogan, der Trump zum Wahlsieg führte. Betrachtet man einige nackte ökonomische Zahlen in ihrer Entwicklung seit der Obama-Präsidentschaft, so kommt man objektiv zu dem Ergebnis, dass die USA nicht gerade am Boden liegen - ganz im Gegenteil. Der Ökonom muss hier mit dem Kopf schütteln und den Zuspruch der amerikanischen Bevölkerung schlicht als irrational - irgendwie durchgeknallt - abtun.

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