Thomas Beschorner

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Systemwettbewerb: Kapitalismus geht auch ohne Demokratie

Thomas Beschorner ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St.Gallen. Miriam Meckel ist Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St.Gallen sowie Gründungsverlegerin der Digitalplattform ada. Léa Steinacker ist Chief Strategy Officer von ada.

Es gibt die Hoffnung, dass der Kapitalismus in naher Zukunft durch ein besseres System abgelöst werden könnte. Und es gibt die Hoffnung, dass er endlich wieder zu seinen Wurzeln der reinen freien Märkte zurückkehren könnte. Welche der beiden Positionen man auch immer bevorzugt - es gibt noch eine dritte Variante: die Revitalisierung der Planwirtschaft auf Datenbasis.

So etwas entwickelt sich derzeit in . Dort entsteht ein datengetriebener Staatskapitalismus, der nicht nur einzelne Elemente der Marktwirtschaft herausfordert, sondern westlichen Ausprägungen des Kapitalismus Konkurrenz machen könnte.

Der Begriff Systemwettbewerb ist mit dem Fall der Mauer eigentlich aus der Mode gekommen. Er kennzeichnete zuvor den Wettbewerb zweier Systeme, dem einer marktwirtschaftlich-demokratischen Ordnung einerseits und dem einer lenkungs- oder planwirtschaftlichen Ordnung andererseits. Erstere sollte seit 1989 als Siegerin hervorgehen und fortan fast konkurrenzlos die Geschicke und Geschichte der Gesellschaft organisieren.

Neoliberale Ökonomen wie Friedrich August von Hayek oder Ludwig von Mises antizipierten eine demokratisch-kapitalistische Gesellschaft schon früh als die funktional überlegene Form der gesellschaftlichen Organisation. Denn dezentral organisierte Marktwirtschaften sind flexibler und innovativer als zentralistische Planwirtschaften. Planungsprozesse, so argumentierte der Ökonomienobelpreisträger Oliver E. Williamson dann etwa 50 Jahre später und analytisch präziser, sind nicht effizient, weil durch sie vergleichsweise hohe Transaktionskosten, insbesondere Kontrollkosten, entstehen. Weder planwirtschaftliche Organisationen noch planwirtschaftliche Gesellschaften könnten daher dauerhaft erfolgreich sein und sich gegen dezentrale und über marktwirtschaftliche Anreize gesteuerte Systeme durchsetzen.

Doch durch die aktuellen Entwicklungen in der Digitalisierung werden die Karten neu gemischt. Big Data und künstliche Intelligenz können dazu beitragen, dass die Transaktionskosten im Sinne Williamsons in zentralistischen Gesellschaften minimiert werden. Über soziale Indikatoren lässt sich ein selbst steuerndes System nach dem Anliegen "der Planer" installieren.

Starke Märkte, schwacher Staat?

Es galt lange als perfekte Symbiose: Demokratie und Kapitalismus. Spätestens die Finanzkrise aber hat der Welt gezeigt, dass die Wirtschaft sich von der Politik fast vollständig entkoppeln kann. In einer Reihe von Essays stellt ZEIT ONLINE die Systemfrage: Wie gut passen Kapitalismus und Demokratie noch zusammen?

Wir prognostizieren daher einen neuen Systemwettbewerb, dessen Ausgang zwar offen ist, bei dem jedoch die totgesagte Planwirtschaft durch den Einsatz neuer technischer Möglichkeiten den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften neue Konkurrenz machen könnte.

Neue Formen gesellschaftlicher Steuerung

Diese Einschätzung ist nicht nur theoretischer Natur. Vielmehr zeichnet sich eine solche Entwicklung heute schon in China sehr deutlich und ganz praktisch ab. Denn China hat einen Plan. Das ist für eine zentralistische Planwirtschaft erst einmal nichts Ungewöhnliches. Aber dieser Plan hat es in sich. Er kombiniert nicht nur staatspolitischen Autoritarismus mit marktwirtschaftlichen Elementen, wie wir es seit einigen Jahren beobachten können, sondern sieht auch vor, neue Formen gesellschaftlicher Steuerung durch den Einsatz modernster Informations- und Kommunikationstechnologien zu etablieren.

Vier Entwicklungen scheinen uns in dieser Hinsicht besonders relevant:

Erstens zählt China im Bereich der digitalen Innovationen zu den weltweit führenden Nationen. Mit Made in China 2025 hat sich das Land vor drei Jahren das Ziel gegeben, bis 2025 den Anteil einheimischer Güter an der wirtschaftlichen Produktion auf 70 Prozent zu erhöhen. Mit der 2017 verabschiedeten KI-Strategie (Next Generation AI Development Plan) will China bis 2020 die USA einholen, bis 2025 die USA überholen und bis 2030 weltweit die Führung in dieser Technologie übernehmen. Bei der konsequenten Anwendung von Plattformstrategien (wie bei WeChat) und bei Identifikationstechnologien (wie zum Beispiel der Gesichtserkennung) ist China bereits führend.
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