Thomas Beschorner

Prof.denkt.schreibt, St.Gallen

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Bilanzskandal: Einzeltäter? Unwahrscheinlich

Wenn in den kommenden Monaten Licht in die Geschäfte von Wirecard gebracht wird, dürfen wir uns wohl auf Geschichten gefasst machen, die offenbaren, mit welcher Kreativität wirtschaftskriminelles Handeln vonstattengeht. Die Korruptionsforschung legt nahe: Die Vorkommnisse werden nicht nur den moralischen Verfehlungen Einzelner geschuldet sein. Es ist unwahrscheinlich, dass wenige Einzelne 1,9 Milliarden Euro in eine Bilanz hineinfrisieren, oder dass überbewertete Unternehmenskäufe in dreistelliger Millionenhöhe von Einzeltätern in Hinterzimmern eingefädelt werden.

Hinter Korruption - dem Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil - in dieser Größenordnung steckt für gewöhnlich ein Netzwerk von Personen und Organisationen, die aktiv betrügen oder eben ihre institutionellen Aufsichtspflichten mangelhaft wahrnehmen. Auch Weggucken kann sich auszahlen - monetär wie nicht monetär.

Vor dem Hintergrund der Korruptionsforschung lassen sich daraus einige Hinweise ableiten. Bei Betrugsformen eines solchen Ausmaßes gilt es, die Aufmerksamkeit nicht nur auf einzelne Tatverdächtige zu richten - sondern auch auf das Netzwerk dahinter. Es ist wichtig, dieses Netzwerk zu verstehen: Wie ist es entstanden? Auf welche Art wirkt die Korruption in ihm? Welche Mechanismen haben es sozial stabilisiert?

Einsicht der Täter? Schwierig

Man muss dabei unter anderem fragen, ob es sich im konkreten Fall lediglich um Korruption handelt oder ob auch mafiöse Strukturen im Spiel sind. Mafiaorganisationen arbeiten mit Erpressungen und Bedrohungen. Ihre Strukturen sind feudal, wie der Wittener Ökonom und Philosoph Birger Priddat schreibt. Korrupte Netzwerke hingegen setzen nicht auf Zwang, sondern beruhen auf einer Art informeller Vertragsbeziehungen, die zwar an sich nicht justiziabel sind, aber dennoch wirksam, falls sie einer Geheimhaltung unterliegen und - wie bei Verträgen üblich - zum gegenseitigen Vorteil reichen.

Thomas Beschorner

ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St.Gallen. Im vergangenen Jahr erschien von ihm das Buch "In schwindelerregender Gesellschaft", in dem er sich mit der Komplexität und Unsicherheit, den Fake News und schön verpackten Lügen unserer Gegenwart beschäftigt.

Üblicherweise umfassen korrupte Netzwerke auch nicht die gesamte Organisation, sondern nur eine Gruppe von Personen innerhalb des Unternehmens. Falls bei solche Netzwerke existiert haben, werden sie auch dort in den anstehenden Ermittlungen nicht auf dem Präsentierteller serviert werden. Sie müssen erforscht und insbesondere über Zeugenaussagen ermittelt werden. Hier können Kronzeugenregelungen und Anreize über ein milderes Strafmaß wichtige Dienste leisten, um das Netzwerk zu sprengen.

Auf allzu viel Einsicht der potenziellen Täter, illegal und unmoralisch gehandelt zu haben, auch das zeigt die Forschung zur Wirtschaftskriminalität, darf man sich nicht verlassen. Korrupte Praktiken und Betrug sind in der Regel über Jahre hinweg eingeübt worden. Sie haben sich verfestigt und verstetigt. Sie können zu etwas führen, was in der Forschung unter dem Begriff des Slippery-Slope-Effekts bekannt ist: Man kommt auf die falsche Bahn, überschätzt sich, unterschätzt die Entdeckungswahrscheinlichkeit und wird zunehmend unsensibel für das eigene moralische Fehlverhalten. Mitunter fühlt man sich sogar im Recht. Konfabulationen - das Füllen von Gedächtnislücken durch frei erfundene Begebenheiten - und das Erzählen der eigenen Geschichte als übertrieben fabelhaft unterstützen diesen Prozess. Systematische und dauerhafte moralische Verfehlungen sind charakterbildend.

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