Thomas A. Herrig

Autor, Kulturjournalist M.A. & Digital Creative, Berlin

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Komm, wir fliegen durch den Saal

Ein Abend in der Berliner Philharmonie. Beißende, teils atonale Klänge schrillen durch den Saal, eine Frau tanzt im feuerroten Vogelkostüm zwischen den Zuschauerrängen, LED- Spots deuten kühlblau ihren Weg voraus. Und über den Köpfen eines gebannten jungen Publikums vollendet sich Strich für Strich die Ankunft eines bösen Zauberers, als live gemaltes Bild.

Es ist Igor Strawinskys Ballettmusik „Der Feuervogel", mit der Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker bei dem Familienkonzert begeistern. Der Chefdirigent registriert eine auffallend konzentrierte Ruhe im Raum, wie er bei der Moderation anmerkt. Die Verbindung aus Musik, Tanz, Lichtinstallation und Projektion der Live-Zeichnung des Künstlers Reinhard Kleist zieht die Anwesenden in Bann. „Ich hoffe, wir konnten Sie heute verzaubern", sagt Petrenko am Ende, bevor er sich speziell an die Eltern im Publikum wendet: „Bitte bringen Sie Ihre Kinder so früh wie möglich ins klassische Konzert".

Was der Abend, der mit viel Applaus zu Ende geht, zeigt: Die nächste Generation zu erreichen, kann besonders dann gelingen, wenn Klassik zum alle Sinne ansprechenden Erlebnisabend wird, der Leidenschaften entfacht. Eine Idee übrigens, die schon Richard Wagner mit seinem Gesamtkunstwerk verfolgte.

Dass es manchmal nur ein anderes Konzertformat braucht, beweist The 8-Bit Big Band, ein in New York beheimatetes Ensemble. Der Band ist im Jazz gelungen, wonach man in der Klassik noch sucht: Sie konnte die Generation Spotify für sich gewinnen, indem sie Videospiel-Musik interpretiert. Mit ihren weitgehend im klassischen Big- Band-Jazz-Stil arrangierten und präsentierten Versionen der Titelmelodien etwa von „Super Mario 64" oder „Tetris" trifft die Band bei ihren monatlich über 130 000 Spotify-Hörer:innen einen digitalen Nerv. Hinzu kommen Millionen weitere Aufrufe bei Youtube und Co..

Dass eine andere Stückauswahl auch in der klassischen Musik digitalen Erfolg versprechen kann, belegt ein Youtube-Video des WDR Funkhausorchesters. Unter dem Titel „Final Fantasy X in concert" spielte das Orchester in der Kölner Philharmonie Werke von Masashi Hamauzu, Junya Nakano und Nobuo Uematsu, die für den weltweiten Videospiel-Bestseller entstanden. Rund eine Million Aufrufe des abgesehen von den Kompositionen recht traditionellen Konzertabends beweisen: Es gibt Interesse an solchen Projekten. Vielleicht lassen sich so Barrieren senken, damit gerade junge Erwachsene Zugang zu klassischer Musik erhalten.

Wie eine erfolgreiche Zusammenführung digitaler und analoger Welten im Konzertsaal der Zukunft funktionieren kann, zeigte ein niederländisches Projektteam schon 2017 mit „360 Cinema Concert", dem nach eigenen Angaben „ersten Musikkonzert mit der Microsoft Hololens". Im Auftrag des Dirigenten und Unternehmers Marcel Thomas Geraeds wurde ein holografisches Konzerterlebnis kreiert, passend zu „Mars, der Kriegsbringer" aus der Planeten-Suite von Gustav Holst.

Durch die Augmented-Reality-Brille eröffnet sich eine zusätzliche Dimension: Wer so ausgestattet im Konzertsaal sitzt, kann erleben, wie auf einem über dem Orchester schwebenden holografischen Mars glühende Asteroiden einschlagen, während die Musikerinnen und Musiker den „Soundtrack" von Holst dazu spielen.

Von der erweiterten Realität zur vollständig virtuellen Realität ist es nur noch ein kleiner Schritt. So versuchen beispielsweise das BBC Symphony Orchestra oder das Rotterdam Philharmonic Orchestra zunehmend, ihre Konzerte so aufzunehmen, dass sie auf den technisch immer besser werdenden Virtual-Reality-Brillen ein neues Klassikerlebnis möglich machen, ganz ohne Konzertsaal.

Beim VR-Projekt von Komischer Oper und Berliner Ensemble soll es nächstes Jahr Ergebnisse geben

Die Annahme: Wenn künftig immer mehr Menschen zuhause über relativ erschwingliche VR-Brillen verfügen und damit in ein Universum neuer Medieninhalte eintauchen können, warum dann nicht eben diese Brillen nutzen, um auch die Klassik, Oper oder Schauspiel immersiv zu erleben?

„Inzwischen hatte ich VR-Brillen auf, habe Virtual Reality im Netz gesehen und hybride VR-Livedarstellungen erlebt", kommentierte etwa der Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, das Digitalprojekt „Spielräume!" im vergangenen Jahr. Das gemeinsam von BE und Komischer Oper initiierte Projekt wird über den Digitalfonds der Bundeskulturstiftung finanziert. Dabei werden verschiedene Bereiche wie Game-Design, Dramaturgie oder Komposition zusammengebracht, auf „der Suche nach digitalen Erlebniswelten". In einem Open Call wurde nach künstlerischen Vorhaben gesucht, „die mit digitalen Technologien nachhaltig und innovativ neue Spielräume schaffen". Dem Gewinnerprojekt der Ausschreibung steht ein Budget von 120 000 Euro zur Verfügung, die Ergebnisse sollen 2023 zu sehen sein.

Viele Häuser nutzen das Live-Streamingportal Twitch

Virtual-Reality-Vorreiter in der deutschen Kulturlandschaft ist wohl das Staatstheater Augsburg, das in der Corona-Saison 2020/2021 die Not zur Tugend machte und eine eigene Digitalsparte ins Leben rief. Unter dem Titel „vr-theater@home" werden auf der Theater-Webseite nicht nur zahlreiche VR-Eigenproduktionen aus Ballett, Schauspiel oder Konzert präsentiert, sondern man kann auch VR-Brillen ausleihen. Dann wird eine Box, zum Beispiel mit Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung", per Fahrradkurier direkt nach Hause geliefert - und nach dem virtuellen Kulturabend wieder abgeholt.

Übertragungen auf dem Live-Streamingportal Twitch hat Augsburg ebenfalls für sich entdeckt, wie auch andere Häuser in der Pandemie, als die gesamte Kulturwelt sich notgedrungen aufs Digitale verlegte. Die Zukunft ist hybrid? Das Berliner Konzerthaus bietet auf Twitch jedenfalls eine Verbindung aus Live-Musik und „Nerd Talk" an. Und zwar in der „Spielzeit", in der es während der Saison alle zwei Wochen per Livestream um alles geht, was das Orchester bewegt.

Bei der Community kommt das an, wie rund eine Million Aufrufe der Videos zeigen; und Kommentare wie „Hab nichts mit klassischer Musik am Hut und bin doch hier hängen geblieben!" Konzerthaus-Intendant Sebastian Nordmann erklärt auf Nachfrage: „Um unterschiedliche Gruppen zu erreichen, müssen wir analog und digital immer wieder spannende Formate entwickeln und Experimente wagen, die an Erfahrungswelten der jüngeren Generationen anknüpfen".

Bei den Berliner Philharmonikern, die auf ihre 20-jährige, von Simon Rattle begründete Tradition der Education-Programme zurückblicken können, beschäftigt man sich weiter mit den Rezeptionsgewohnheiten eines jungen Publikums. Programmleiterin Katja Frei glaubt „dass uns die äußeren Entwicklungen im Moment noch stärker dazu auffordern, uns neu zu positionieren", wenn man „ein notwendiger Bestandteil des Lebens der Menschen jeglichen Alters" sein möchte. Die Tradition könne „als Fundament und Antrieb" genutzt werden, findet Frei. Die großen Institutionen sollten sich ruhig etwas schneller transformieren in Sachen Teilhabe und Zugänglichkeit.

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