Ein Vierteljahrhundert lang war der Buchladen "Kisch und Co" eine Institution in Berlin- Kreuzberg, in den vergangenen Monaten wurde er zu einem Symbol für die Gentrifizierung des Stadtteils. Das Gebäude wurde 2020 verkauft, der Buchladen sollte raus. Der neue Eigentümer klagte auf Räumung - mit Erfolg. Ende August war Schluss für Kisch & Co.
Thorsten Willenbrock, Buchhändler Thorsten Willenbrock, Buchhändler Und das war einfach nicht möglich? 20 ist für uns schon die Grenze gewesen, 45 ist für uns utopisch." "Von den Architekten das Beispiel: die hatten 13 Euro bisher gezahlt und sollten jetzt 38 bezahlen, also fast eine Verdreifachung. Und wenn wir unser Beispiel nehmen von 20 Euro Nettokalt pro Quadratmeter, dann müsste man ungefähr bei 45-50 liegen. "Wut im Bauch hat nachgelassen, ist abgelöst worden von Tränen, nach der Gerichtsverhandlung."Der neue Eigentümer des Gebäudes ist ein Immobilienfonds. Wer genau dahintersteckt, ist unklar. Der Fonds wollte den Mietvertrag nicht verlängern und auch nicht über einen neuen verhandeln. Die anderen Mieter des Hauses - eine Galerie, ein Yogastudio und ein Architekturbüro - wurden mit drastischen Mieterhöhungen konfrontiert.
Ortswechsel. Wie eine Alternative zu horrenden Mieten und zur Verdrängung von Kleingewerbe aus den Innenstädten aussehen kann, zeigt der "Handwerkerhof" in Hamburg im beliebten Stadtteil Ottensen. In dem Bau von 2014 gibt es einige Büros und rund ein Dutzend kleine Werkstätten, unter anderem die des Harfenbauers Henrik Schupp. Jahrelang hatte Schupp ganz ähnliche Sorgen wie Kisch & Co in Berlin.
Henrik Schupp, Harfenbauer "Im Grunde war es auch nicht klar, was mit meiner Werkstatt, in der ich gewesen bin, was damit passiert. Die wurde im Laufe der Zeit, in der ich da gewesen bin, mehrmals verkauft, das ganze Grundstück. Es hätte immer gut sein können, jeden Moment, dass da abgerissen wird oder dass das der Spekulation zum Opfer fällt."
Heute zahlt Henrik Schupp 8 Euro 60 Miete pro Quadratmeter und muss weder eine Mieterhöhung noch einen Verkauf des Gebäudes fürchten. Denn der "Handwerkerhof" wurde dem freien Immobilienmarkt entzogen. Und zwar vom "Mietshäuser-Syndikat", einem Zusammenschluss von mehr 160 Hausprojekten in ganz Deutschland. Das Konstrukt, das stabile Mieten möglich und Immobilienspekulation unmöglich macht, funktioniert so: Jedes Projekt unter dem Dach des Mietshäuser-Syndikats besteht aus einer Haus-GmbH und einem Haus-Verein. Der Hausverein, in dem die Mieterinnen und Mieter Mitglied sind, kümmert sich um alle alltäglichen Dinge wie Aufteilung der Räume, Vergabe von Wohnung oder Werkstätten und so weiter.
Die Haus-GmbH kauft das Haus und ist ist so mit dem Syndikat verwoben, dass ein Wiederverkauf des Hauses quasi unmöglich ist: Denn das Syndikat hat in der Haus-GmbH ein Vetorecht, unter anderem dann, wenn der Hausverein beschließen sollte, das Haus zu Geld zu machen. Der Bauberater Hans von Bülow ist einer der Initiatoren des Handwerkerhauses.
Hans von Bülow, Sprecher Handwerkerhof "Wir haben uns 2011 mit knapp 15 Einzelpersonen zusammengefunden, weil hier in Ottensen der Verdrängungsdruck extrem gewachsen war und einige schon konkret von Verdrängung an ihren Stammsitzen bedroht waren. Bei anderen war das absehbar."
Die Gruppe entdeckte den späteren Bauplatz - eine Brachfläche, die der Stadt gehörte - und bewarb sich mit ihrem Konzept, das persönlichem Profit keine Chance gibt.
Hans von Bülow, Sprecher Handwerkerhof "Das war auch ein zentraler Baustein, der die Stadt, die Politik auch mit überzeugt hat, dass es eben nicht darum geht, in zehn Jahren das hier wieder meistbietend zu verklötern, sondern eben eine Standortsicherung zu betreiben, die auch über die erste Generation, die es gegründet hat, hinausgeht. Das gibt allen Betrieben eine enorm hohe Sicherheit. Wir werden auch keine steigenden Mieten haben, weil es letztendlich alles gefixt ist. Wir haben eine reine Kostenmiete. Das wird nicht teurer. Also im Gegensatz, wenn du die Inflation mitberücksichtigst, wird sie ja eher günstiger." Die Stadt verkaufte das Baugrundstück schließlich unter Marktpreis. Drei Millionen Euro musste die Handwerker-Gemeinschaft insgesamt auftreiben - die Finanzierung ist eine Mischung aus Bankkredit und Privatdarlehen von Freunden, Bekannten, Verwandten. Hans von Bülow, Sprecher Handwerkerhof "Du brauchst halt auch Engagement. Also, du musst das auch wollen und dich drum kümmern. Es fällt dir halt nicht in Schoß, das ist klar. Das ist anders, als wenn ich zum Vermieter gehe und sage: Gib mir Fläche X und ich zahle dir Summe Y." Der Hof soll keine Zweckgemeinschaft sein. Wird mal eine Werkstatt frei, werden die Neumieter so ähnlich ausgewählt wie in einer Wohngemeinschaft. Und alle müssen neben ihrer eigentlichen Arbeit die Selbstverwaltung organisieren. Dafür ist die Angst vor einer Mieterhöhung oder Kündigung Geschichte. Wiebke Mücke, Mückedesign "Für mich ist es eine totale Erleichterung, dass diese Sorge einfach gar nicht mehr da ist, dass man eine finanzielle Sicherheit hat, dass man weiß, mit was für einem Budget man rechnen muss, was man im Monat verdienen muss, und ich glaube, seitdem bin ich auch viel entspannter mit meiner Kundschaft."
Entspanntes Arbeiten in Hamburg - und in Berlin: Proteste gegen die Verdrängung von Kleingewerbetreibenden aus ihren angestammten Stadtvierteln. Christoph Trautvetter analysiert die Eigentumsverhältnisse und Geschäftspraktiken auf dem Berliner Mietmarkt. Im Fall der Buchhandlung "Kisch und Co" trifft er auf ein typisches, schwer durchschaubares Konstrukt: einen Investmentfonds mit drei Anwälten als Treuhändern, Christoph Trautvetter, Autor "Wem gehört die Stadt" "...die in Liechtenstein und der Schweiz Vermögensverwaltung für reiche Familien machen und diesen Familien helfen, ihr Vermögen anonym zu vermehren. Und da hört die offizielle Suche in den Registern, die offiziell dokumentierte Eigentümerkette auf."
Trautvetter recherchiert weiter und stößt schließlich auf eine schwedische Milliardärsfamilie - für ihn mit 99%-ger Sicherheit die neuen Eigentümer. Digitalisierte und vernetzte Grundbücher und ein vollständiges Transparenzregister könnten die Investoren aus der Anonymität zwingen. Buchhändler Thorsten Willenbrock würde das nichts mehr bringen.
Immerhin: Willenbrock und seine drei MitarbeiterInnen haben inzwischen mithilfe einer Kiezinitiative einen neuen Laden gefunden. Der neue Vermieter: eine Tochtergesellschaft des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen. Dieser muss sich am 26. September in Berlin einem Volksentscheid stellen.-Die Forderung: große Immobilienfirmen enteignen.