Dort stehen Fabienne, die eigentlich anders heißt, und ein gutes Dutzend weitere Frauen, um ihre Körper anzubieten. Sie trotzen Wind und Wetter und haben mit ihren Kunden Sex auf der Auto-Rückbank oder im Gebüsch. Fabienne macht den Job seit sechs Jahren. Angefangen hat sie, weil sie schnell Geld brauchte. Für jeden Mann, mit dem sie Geschlechtsverkehr hat, bekommt sie 50 Euro, Oralsex gibt es für 30 Euro. „Am Anfang ist es komisch, aber man gewöhnt sich daran“, sagt sie mit ihrer tiefen, rauhen Stimme. Sex ohne Kondom würde sie nie anbieten, und auch bei ihren Preisen macht sie keine Kompromisse, wie sie sagt. Auf der anderen Straßenseite sehe es da schon ganz anders aus, beschwert sie sich. Dass andere auf dem Strich sich nicht an die Preise und Regeln halten, ärgert sie. Wenn sie sagt: „Die Arbeit ist beschissen“, meint sie, die Konkurrenz sei hart. Einen anderen Job wünscht sie sich nämlich nicht.
An der Theodor-Heuss-Allee gibt es zwei Lager: die linke und die rechte Straßenseite. Und über „die von drüben“ wird ordentlich hergezogen: Fabienne erzählt, dass viele der Frauen nicht mit der Pille verhüteten, aber für mehr Geld Geschlechtsverkehr ohne Kondom anböten. „Und dann fahren sie alle paar Monate nach Bulgarien, um das Kind wegzumachen.“ Sie zieht fest an ihrer Zigarette, ihre Mundwinkel kräuseln sich. Andersherum wird genauso gelästert. Im Kampf um die meisten Freier kann es schon einmal ungemütlich werden. Aber ein paar Verbündete hat jede auf der Straße.
Wie zum Beispiel Marila für Fabienne. Vor drei Jahren kam sie nach Frankfurt, nachdem sie ein paar Jahre in Berlin auf dem Strich gearbeitet hatte. Sie steht ein paar Meter neben Fabienne und lacht laut, wenn sie von dem einen Freier erzählt, der sie mit nach Hause genommen hat, obwohl die Ehefrau dort war. Ihr kurzes Haar streicht sie immer wieder hinters Ohr, ihre Augen suchen die Straße nach Kunden ab. In den vergangenen Nächten hatte sie kein Glück, heute muss es klappen. Denn wenn die Frauen ein paar Tage nichts verdienen, wird es eng: Die meisten können sich dann nicht einmal mehr ein Ticket für den Nahverkehr leisten, werden erwischt, müssen Strafe zahlen, häufen Schulden an. Auch Marila heißt im wirklichen Leben anders. Sie ist, wie fast alle auf dem Frankfurter Strich, aus Bulgarien gekommen, um ein besseres Leben in Deutschland zu haben. „Ich wusste, was ich hier machen würde“, sagt sie. In Deutschland auf den Strich zu gehen sei aber immer noch besser, als arbeitslos in Bulgarien zu sein.
Trotzdem: Marila will aussteigen, anders als viele ihrer Kolleginnen. Putzen oder im Supermarkt an der Kasse sitzen, das könnte sie sich vorstellen. Den Beruf zu wechseln ist allerdings nicht einfach: Viele Frauen, die auf dem Strich arbeiten, haben keine Krankenversicherung, keinen Mietvertrag, manche nicht einmal einen Ausweis. Die sozialen Absicherungen, die das nur drei Paragraphen umfassende „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“ ermöglichen wollte, kennen die meisten überhaupt nicht, oder sie, die meisten sind Bulgarinnen, fürchten den Kontakt zu den Behörden.
Encarni Ramirez kennt die Szene und ihre Probleme. Zusammen mit Streetworkern ist sie für die Frauen auf dem Strich da, gibt ihnen medizinische Ratschläge und hilft in der Beratungsstelle, zum Beispiel bei der Klärung von Schulden. Ramirez leitet die Sozialberatung und ist zuständig für die Streetwork beim Verein „Frauenrecht ist Menschenrecht“ (FIM). Wenn jemand aussteigen will, wird er von ihr unterstützt. Aber sie bleibt realistisch: „Manchmal ist es so, dass die Frauen nach ein paar Tagen wieder an der Straße stehen.“ Entmutigen lässt sich Ramirez davon nicht - sie weiß, dass die Frauen oft ganz anders auf die Welt schauen als sie.
Auf dem Strich geht es viel um Verantwortung. Verantwortung für Kinder und Familien, denen Geld geschickt wird. Verantwortung gegenüber den Kolleginnen, deren Geschäft nicht mit Dumpingpreisen kaputtgemacht werden soll. Und Verantwortung für den eigenen Körper und die eigene Gesundheit. Hier hakt es besonders. Encarni Ramirez berichtet, dass viele zu lange warten, bis sie zum Arzt gehen. Übertragbare Krankheiten, aber auch Infektionen wie eine Blasenentzündung sind an der Tagesordnung. Die Mitarbeiter von FIM versuchen zwar, die Prostituierten aufzuklären, verteilen Kondome und gehen auch mal mit zum Arzt. Vielen Frauen geht es gesundheitlich trotzdem nicht gut, sie geben es aber nicht gern zu. Eine Prostituierte mit haarspray-steifen Haaren beteuert immer wieder, dass alles gut sei: „Job gut, Kunden gut, unsere Seite alles gut.“ Auch sie kommt aus Bulgarien.
Von wegen „alles gut“: Die Frauen auf dem Strich erzählen von vorbeifahrenden Autos, aus denen Flaschen geworfen werden. Oder von Freiern, die sich nicht an Absprachen halten und gewalttätig werden. Die Polizei reagiere immer schnell auf die Anrufe der Prostituierten, berichtet Marila: „In drei Minuten sind die da.“ Das Kennzeichen wissen die Frauen aber oft trotzdem nicht, und so laufen die Ermittlungen ins Leere. Auch wenn Marila mit der Polizei zufrieden ist, die Stadt könnte noch mehr tun, findet sie. Früher gab es den „Nachtbus“, in dem heißer Tee, Kondome und belegte Brötchen angeboten wurden. Die Frauen konnten sich ein paar Minuten aufwärmen und ein Gespräch führen. Doch für das Projekt fehlt der Stadt mittlerweile das Geld. Die Streetworkerinnen sind seitdem dreimal in der Woche draußen und bieten den Frauen Hilfe an. Viele haben sie bitter nötig.
Wenn Fabienne darüber spricht, wie einige Kolleginnen ungeschützten Verkehr hätten, rümpft sie die Nase, die Mundwinkel kräuseln sich wieder. „Ich will doch noch mit Genuss mit meinem Mann schlafen oder meine Enkel küssen“, sagt sie. Einen festen Partner haben die meisten auf dem Strich, auch Kinder und Enkel sind nicht selten. Fabiennes Mann weiß, was sie arbeitet, er begleitet sie sogar häufig. Als sie ihn das erste Mal erwähnt, nennt sie ihn ihren „Fahrer“. Auch wenn die Frauen das Objekt der Begierde auf dem Strich sind - um sie als Person geht es nur selten. Der Sex sei mechanisch, eben echte Arbeit, beschreibt Marila ihre Erfahrungen. Die Frauen halten sich mit Energy-Drinks und Kaffee wach, um mehr arbeiten zu können. Der Arbeitstag beginnt für sie etwa um 18 Uhr, die Frauen harren bei Kälte und Dunkelheit bis zum Morgen an der Straße aus. Es ist ein anstrengendes und gefährliches Leben am Bordstein. Sie gehen große Risiken ein, wenn sie zu einem Mann ins Auto steigen und wegfahren. Die meisten Prostituierten an der Theodor-Heuss-Allee haben einen Zuhälter, also jemanden, mit dem sie ihren Verdienst teilen müssen. Fast immer ist es ihr Partner.
Irgendwann waren Fabiennes größte Geldsorgen vorbei, aber sie hörte trotzdem nicht auf, sich jeden Abend an die Theodor-Heuss-Allee zu stellen. So recht will das nicht zu ihrem Bericht von einem Freier passen, der sie einmal brutal auf die Motorhaube seines Autos geworfen hat und Sex ohne Kondom wollte. Fabienne konnte sich losreißen, ist „noch mal davongekommen“. Trotzdem steht sie seitdem wieder an ihrem Leuchtturm, raucht und spielt nervös an ihren Kopfhörern herum. „Vielleicht mache ich noch einen Sommer“, sagt sie und bläst eine Rauchwolke in die Nacht. Ob die Prostituierten nicht lieber in einem Bordell arbeiten würden, wo es einen Sicherheitsservice gibt und warme Zimmer? Der Strich sei immer noch die bessere Option, sagen alle auf der Theodor-Heuss-Allee. In einem Bordell sei die Tagesmiete mit etwa 140 Euro zu hoch, erklärt Marila. „Was ich hier verdiene, geht in meine Tasche.“
Und auch Fabienne würde nie in einem Laufhaus arbeiten: „Wenn du an ein, zwei Tagen dein Zimmer nicht bezahlen kannst, nehmen die dir deinen Ausweis weg, und du wirst versklavt, kommst nicht mehr raus - da bin ich lieber frei.“ Energisch wirft sie ihren Kopf nach hinten, sie wirkt selbstbewusst, wenn sie das sagt. Ihr Revier auf der Theodor-Heuss-Allee musste sie sich hart erkämpfen: Neulinge werden nicht selten gewaltsam vertrieben. „Aber ich bin immer wieder gekommen, hab mich nicht verjagen lassen“, sagt Fabienne. So selbstsicher wie sie sind nicht alle auf dem Strich. Die Straße macht zwar alle hart. Viele der Frauen, die dort arbeiten, stehen jedoch unter großem Druck, Geld zu verdienen. Sie können es sich nicht leisten, eklige Freier abzulehnen, auf einem Kondom zu bestehen oder zum Arzt zu gehen, wenn sie krank sind. Encarni Ramirez meint, wenn alle so wären wie Fabienne, brauchte es keine Streetwork mehr. Sie lässt sich nicht herumschubsen. Aber die wenigsten sind eben wie Fabienne.
Zum Beispiel Marila. Wenn sie Sex mit einem Freier hat, findet sie das „schrecklich“. Aber sofort aufhören kann sie nicht: Ohne Papiere gibt es weder legale Arbeit noch Hartz IV, und ohne Geld kann sie nicht einmal Essen kaufen. FIM hilft ihr derzeit, den Ausstieg zu organisieren. Marila hat sich zwar an ihr Leben gewöhnt, inzwischen kann sie auch über die Freier lachen. Sich über deren Wünsche lustig machen. Aber sie erinnert sich auch noch an ihren ersten Kunden in Berlin. „Ich habe mich so geschämt“, sagt sie und schickt gleich ein gepresstes Lachen hinterher, als wolle sie, dass das, was sie sagt, nicht so schlimm klingt. Sie konnte damals kein Wort Deutsch. Der Kunde zeigte ihr auf seinem Smartphone ein Video, dann sollte sie das für ihn tun, was dort zu sehen war. Heute kann sie sich verständigen, fühlt sich sicherer. Aber sie will kein Geld mehr mit ihrem Körper verdienen.
Fabienne und ihre Kolleginnen sehen das anders: Der Strich ist für sie ein Job wie jeder andere auch. Und so steckt sich Fabienne eine neue Zigarette an und lehnt sich an ihren Leuchtturm. Wäre gut, wenn noch ein Kunde käme. Und drüben auf der anderen Seite ruft eine schrille Frauenstimme: „Hey, Süßer, warte, warte, warte!“ Absätze klappern, ein Motor verstummt erst kurz, dann heult er auf.