Mit 15 zog sie an einem Joint, später sah Lin Mai weiße Schatten. Es folgten vier Klinikaufenthalte. Wie es ist, der eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen zu können.
Manchmal beschleunigt sich Lin Mais Welt, wird zu schnell, zu laut, zu intensiv. Manchmal sieht sie dann Schatten in Fenstern oder Zahlen und Buchstaben auf Türrahmen. Dopamin ist eigentlich ein Botenstoff, der motiviert, antreibt und glücklich macht. Bei Lin, 26 Jahre alt, verursacht er manchmal Unglück. Immer dann, wenn sie zu viel davon in ihrem Körper hat.
Über die Jahre hinweg hat sie in diesen Phasen Tagebuch geführt. Sie beschreibt sie so:
"Ich spüre diese innere Spannung in mir. Sie kommt aus meiner Bauchgegend. Diese tiefe Leere und Einsamkeit kommt aus der Bauchgegend." (Aus ihrem Tagebuch, Freitag, 13. September 2019)
Lin hat Schizophrenie, etwa 800.000 Menschen leben Schätzungen zufolge in Deutschland mit dieser Krankheit.
Sie sitzt in einem Café in , eine Frau, die Sonnenbrille trägt, auch wenn am Himmel Wolken kleben. Die immer ein Notizbuch bei sich hat, weil sie vieles vergisst - vielleicht eine Nebenwirkung der Medikamente. Jeden Abend nimmt sie 200 Milligramm Quetiapin, ein Antipsychotikum.
Bei Schizophrenie, so nimmt es die Medizin an, schüttet das Gehirn zu viel Dopamin aus. Der Botenstoff überträgt dann zu viele Reize zwischen den Nervenzellen und die Welt drückt sich ungefiltert in den Kopf.
Darüber, wie die psychische Erkrankung entsteht, weiß man wenig. Eine einzelne Ursache gibt es nicht. Fest steht, dass erbliche Veranlagung und belastende Faktoren, etwa Gewalterfahrung, eine Schizophrenie begünstigen können. Die Krankheit trifft häufig besonders empfindliche Menschen zwischen 18 und 35 Jahren und bricht oft dann aus, wenn es im Leben zu einem Umbruch kommt. Zu einem Umzug, einem Jobwechsel, einer Trennung. Oder wenn man Drogen nimmt. Laut Robert Koch-Institut können Kokain, LSD oder Cannabis frühzeitig eine Schizophrenie auslösen.
Bei Lin war es ein Joint. Damals, im Oktober 2010, als sie 15 Jahre alt war, besuchten ihre Eltern für ein paar Wochen ihre Familien in . Lin blieb mit ihrem jüngeren Bruder allein in der Dreizimmerwohnung in Berlin. Sie lud ihre Freunde zu einer Party ein. Irgendwann an diesem Abend baute jemand einen Joint und reichte ihn herum. Auch Lin zog daran, nur so aus Spaß. In einem YouTube-Video, das ihr danach jemand zeigte, habe sie Farben und Muster gesehen, erzählt sie. Der Rest des Abends fehlt ihr. "Seit dieser Nacht war alles ein bisschen merkwürdig", sagt sie.
Von den Jahren nach diesem Abend erzählt sie bei mehreren Treffen. Immer wieder verfängt sie sich dann in der Vergangenheit, verwechselt Daten und Abfolgen. Immer wieder beginnt sie Sätze, bemüht, jede Frage zu beantworten, und bricht doch ab: "Ich erinnere mich nur an Szenen und Bilder", sagt sie dann. Manchmal füllt eines ihrer Tagebücher die leeren Stellen. Lin hat gezeichnet und geschrieben: zu Hause, auf , in Kliniken. Mal stehen die Buchstaben geordnet, mal fließen sie fast ineinander. Mal füllt ein Tag mehrere Seiten, mal bleibt das Datum allein mit einzelnen Buchstaben - nicht immer habe sie genügend Kraft gehabt. Und ab und zu täuscht sie ihre Erinnerung. "Stimmen habe ich nie gehört", sagt sie im Gespräch. "Manchmal ist es noch so, dass ich akustisch optische Halluzinationen habe", steht in ihrem Tagebuch.
Jede Schizophrenie ist anders, so wie jeder Mensch. Aber nur selten ist die Krankheit völlig heilbar. Lin will mit ihrer Geschichte zeigen, dass man auch mit einer psychischen Erkrankung vieles schaffen kann. Und hofft, dass sie ihre Vergangenheit ordnen kann, indem sie von ihr erzählt.
VerdrängenIn den Wochen nach dem Joint, so erzählt Lin, habe sie sich zurückgezogen. Statt wie früher die Nachmittage mit ihrer Clique und Eis zu verbringen und die Abende mit Wodka-O im Park, blieb sie die meiste Zeit allein mit ihren Kopfhörern. Am liebsten hörte sie Pumped up Kicks von Foster the People - im Kinderzimmer, in der Bahn, auf dem Schulhof. Dort hatte sie an einem Nachmittag, da war sie 15, ihre erste Halluzination: weiße Schatten hinter ein paar Fenstern. Sie habe gezweifelt: "Sind die echt oder spinne ich?"
"Ich wollte fliehen, weit weg in ein Land, wo es schön war. In einen Traum, in meinen Traum. In meine Traumwelt, die ich mir aufgebaut hatte. In einer Traumwelt aus Farben und Lichtern. In meine Realität." (Aus dem Buch, an dem sie gerade schreibt)
In den kommenden Jahren zerteilte sich ihr Leben: Da waren die guten Phasen, oft im Sommer, in denen sie glaubte, alles sei okay. Dann grübelte sie kaum, spürte sich selbst und war so voller Energie, dass sie manchmal erst um 16 Uhr merkte: Außer dem Keks zum Kaffee habe ich noch nichts gegessen. In denen sie sich freute, Blätter im Wind rascheln zu hören und manchmal singend durch die Straßen radelte. Und da waren die schlechten Phasen, oft im Winter, von denen sie noch nicht wusste, dass sie Psychosen heißen, und in denen sie sich fühlte wie "neben der Spur". Dann konnte sie sich im Unterricht kaum mehr konzentrieren. Vielleicht, weil da diese Unruhe war, die sie sich nicht erklären konnte, und wegen der sie morgens manchmal um vier Uhr aufstand und stundenlang Berlin ablief. In der Dunkelheit habe sie sich sicher gefühlt, sagt sie, wenn die Stadt für ein paar Stunden Pause machte und ihr kaum Menschen begegneten.
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