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Neurofeedback: Geschäft mit Gedanken

Mit Neurofeedback kann man lernen, seine Gehirnströme zu kontrollieren und so Stress oder Schlafstörungen entgegenwirken. Wie seriös die Angebote sind, ist jedoch schwer zu durchschauen.

Roland Heinicke verlor die Kontrolle, als seine Firma in Turbulenzen geriet. Er sah, wie Kollegen ihre Jobs verloren, sein berufliches Umfeld brach zusammen. „Was, wenn ich der Nächste bin?“, fragte er sich. Nachts konnte er kaum noch schlafen. Stundenlang wälzte er sich im Bett. Seine Gedanken kreisten immer wieder um dieselbe Frage. Heinicke, der eigentlich anders heißt, versuchte es mit Schlaftabletten, aber morgens fühlte er sich wie erschlagen. Er setzte die Pillen wieder ab.

„Ich war richtig am Ende“, sagt der 67-jährige Diplomingenieur rückblickend, als er in einem Münchner Café von dieser Zeit erzählt. Sein Arzt schrieb ihn für mehrere Monate krank. Langsam kam er wieder zu Kräften, doch die Schlafstörungen blieben. Heinicke bekam sie erst in den Griff, als er in die Münchner Praxis von Lothar Niepoth kam. Der Psychologe und Verhaltenstherapeut probierte mit ihm Neurofeedback aus, eine spezielle Art des Gehirntrainings. Er befestigte Elektroden an Heinickes Kopf, die seine Gehirnströme maßen und an einen Computer weiterleiteten. Heinicke lernte, die Ströme, die bei Unruhe und Nervosität stark sind, bewusst herunterzufahren und die, die für Entspannung stehen, verstärkt zu produzieren. Das Training zeigte Wirkung. Heinicke konnte sich besser entspannen - und endlich wieder schlafen.

Erfolgreiche Behandlung ohne Medikamente

Geschichten wie die von Heinicke machen immer mehr die Runde und vielen Menschen Hoffnung. Mit Neurofeedback, so die Erfahrung der Therapeuten, können Schlafstörungen, Stress oder Migräne erfolgreich behandelt oder zumindest die Symptome gelindert werden, ganz ohne Medikamente. Lange war Neurofeedback wenig bekannt, von Schulmedizinern wurde es als Hokuspokus abgetan. Doch seit Forscher sich dem Thema verstärkt widmen und in Studien belegen konnten, dass Neurofeedback bei bestimmten Krankheitsbildern wirkt, steigt das Interesse. Ärzte, Psychotherapeuten, Ergotherapeuten und Heilpraktiker reagieren auf die steigende Nachfrage.

Obwohl die gesetzlichen Kassen die Behandlung nur in bestimmten Fällen bezahlen, hoffen etliche Anbieter auf ein lohnendes Geschäft, denn Neurofeedback lockt Privatpatienten und Selbstzahler in die Praxen. Im Detail ist es so: Bei medizinischer Indikation übernehmen private Kassen die Kosten häufig. Die gesetzlichen bezahlen die Behandlung etwa, wenn das Neurofeedback-Training in eine Verhaltenstherapie beim psychologischen Psychotherapeuten oder beim Ergotherapeuten integriert ist.

Deutschlandweit keine verbindlichen Standards

Gleichzeitig fehlt es an Kontrolle: Für die Ausbildung zum Neurofeedback-Therapeuten gibt es in Deutschland keine verbindlichen Standards, Gerätehersteller bieten teils Crashkurse an, die nur wenige Tage dauern und auch für Menschen offen sind, die nicht aus Gesundheitsberufen kommen. Für die Patienten ist all dies nur schwer zu durchblicken, und dennoch geben sie für die Behandlung viel Geld aus. Eine Sitzung Neurofeedback kostet bis zu 100 Euro, meist sind 20 bis 35 Sitzungen notwendig.

Roland Heinicke brauchte eine Weile, bis er den Dreh raus hatte. Die Methode fand er von Anfang an interessant. „Als Ingenieur bin ich technikaffin“, sagt er. Er war neugierig, als Niepoth ihn das erste Mal an das Gerät anschloss. Mit der Elektrodenhaube auf dem Kopf, einer Art Mütze mit Sensoren, saß Heinicke im Behandlungszimmer. Kabel führten von den Sensoren zu einem kleinen Gerät, einem Signalwandler, der die Werte dann an den Computer schickte. In Echtzeit konnte Heinicke verfolgen, was in seinem Kopf los war.

Für die Therapie von Heinickes Einschlafproblemen waren vor allem zwei Arten von Gehirnwellen von Bedeutung: die High-Beta-Wellen, die für Unruhe und Stress stehen, und die SMR-Wellen, die man mit körperlicher Ruhe und Konzentration verbindet. Studien haben gezeigt, dass höhere SMR-Werte beim Einschlafen helfen. Auf dem Bildschirm vor sich sah Heinicke zwei buntgefärbte Säulen. Die eine zeigte die Werte der Stresswellen an, sie sollte möglichst kleiner werden. Die zweite veranschaulichte die Entspannungswerte. Diese Säule sollte er zum Wachsen bringen. Wenn Heinicke es schaffte, die gewünschten Werte zu erreichen, ertönte aus den Lautsprechern ein Ton - ein leises Hupen. Das war das Feedback, das ihm sagte: Du bist auf dem richtigen Weg.

Schöne Bilder werden vom Gerät belohnt

Neurofeedback funktioniert nach dem Prinzip der operanten Konditionierung, einem Klassiker der Lernpsychologie. Man lernt durch Belohnung. „Wie er zu dem Punkt kommt, an dem er die gewünschte Entspannung erreicht, das ist bei jedem Patienten anders“, erzählt Elena Schmid, Mitarbeiterin in Niepoths Praxis. Oft gibt sie Patienten den Tipp, an einen schönen Ort zu denken.

Heinicke probierte verschiedene Bilder aus, bis er das fand, was für ihn zu seinem Entspannungsbild wurde. Es stammt aus einem Urlaub mit seiner Frau in der Steiermark. Als die beiden eine Alm hinaufgingen, erblickten sie plötzlich eine große, weite Wiese voller Löwenzahn mit kräftig-gelben Blüten. „Das war für mich ein Idealzustand von Ruhe und Himmel.“ Er erinnert sich daran, dass seine Frau sich aus den Löwenzahnblumen einen Haarkranz flocht. „Es waren so glückliche, ruhige, ausgeglichene Momente.“ Mit dem Bild der Löwenzahnwiese rief er den Hupton beim Neurofeedback-Training immer öfter hervor.

Heinicke brauchte etwa 30 Sitzungen, bis er das Training so sicher beherrschte, dass er sich auch zu Hause, ganz ohne Geräte, entspannen konnte. „Neurofeedback ist immer auch Hilfe zur Selbsthilfe“, sagt Niepoth. Wenn dem Patienten der Transfer vom Training in der Praxis in seinen Alltag gelingt, ist das Ziel der Therapie erreicht.

Hoffnung auf Behandlung von Autismus, Migräne und Ticks

Niepoth bietet in seiner Praxis schon seit 1998 Bio- und Neurofeedback an. „Die Faszination, dass man das Gehirn selbst beeinflussen kann, hat auch mich getrieben“, erzählt er. Neurofeedback ist eine spezielle Richtung des Biofeedback. Darunter versteht man allgemein ein Verfahren, mit dem psychophysiologische Funktionen wie Herzschlag oder Atmung erfahrbar werden. Das Ziel ist, sie zu beeinflussen und zu kontrollieren.

In seiner Praxis trifft Niepoth oft auf Menschen, die vom Leben in der Leistungsgesellschaft erschöpft sind. „Bei vielen geht es in Richtung Burnout“, sagt er. Wenn sich das an Symptomen wie Schlaf- oder Angststörungen zeigt, arbeitet er mit Neurofeedback, ebenso bei Übererregungsstörungen, ADS und ADHS. „In diesen Bereichen ist die Wirkung von Neurofeedback gut erforscht.“ Hoffnung bestehe auch für die Behandlung von Autismus, Migräne und Ticks, hier sei die wissenschaftliche Beweislage aber dünner.

Wenn Niepoth über Neurofeedback spricht, drückt er sich nüchtern aus. In Birkenstocks und grauem Flanellhemd sitzt er in seinem schlicht eingerichteten Büro. Ab und zu steht er von seinem Stuhl auf und zeichnet mit einem Stift Kurven auf die Glastafel an der Wand. Er will mit Fakten überzeugen, spricht lieber über das, was man aus der Forschung sicher weiß, als über das, was man bald wissen könnte.

Auch Wellness-Studios schneiden sich ein Stück vom Kuchen ab

Niepoth hätte allen Grund, für das noch junge Gebiet des Neurofeedback zu trommeln. Er hat nicht nur seine Praxis in München, er ist auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biofeedback. Doch Neurofeedback ist in der letzten Zeit derart Mode geworden, dass man den Eindruck bekommt, Niepoth wolle die Euphorie bewusst dämpfen.

Während es vor zehn Jahren noch schwierig war, zum Beispiel in der Region München einen Neurofeedback-Therapeuten für die Behandlung von ADHS bei Kindern zu finden, spucken Suchmaschinen inzwischen für große Städte zig Adressen aus. Auch Business-Coaches und Wellness-Anbieter zählen Neurofeedback zu ihrem Repertoire. In ihrem Marketing-Sprech wird Neurofeedback zum Allheilmittel, das auch für Gesunde interessant ist. Schon die Namen der Praxen klingen wie Fitnessstudios fürs Gehirn: Sie heißen „Brain up“, „Mindfocus“ oder „Flex Your Brain“.

Mit Sprüchen wie „Leistung und Wellness beginnen im Kopf“ will man im Kölner Wellness-Studio „Flex Your Brain“ die Kunden vom Neurofeedback überzeugen. Auf der Website heißt es: „Millionen Menschen trainieren täglich ihren Körper, Muskulatur und Beweglichkeit, Ausdauer und Kraft. Und lassen den Kopf links liegen. Dabei macht Gehirntraining mittels Neurofeedback uns kognitiv stärker und emotional robuster, stärkt dabei unser physisches Befinden.“

Gefährlicher Graubereich mit unterqualifiziertem Personal

Tatsächlich kann Neurofeedback-Training unter professioneller Betreuung auch Gesunden gut tun. „Das hat sich in verschiedenen Studien gezeigt“, sagt Ute Strehl, die an der Universität Tübingen zu Neurofeedback forscht. Das Problem ist jedoch, dass es manchem Personal an fachlicher Expertise fehlt. Inhaber von sogenannten Wellness-Studios sind unter anderem Betriebswirte, die ihre Ausbildung zum „Neurofeedback-Trainer“ innerhalb von drei Tagen im Ausland absolviert haben, mit Online-Kursen.

Solche Trainer geben häufig an, sie arbeiteten nur mit Menschen mit akuter Diagnose, wenn der behandelnde Arzt darüber informiert sei. Außerdem findet man in manchen dieser Studios Geräte, die fast alles selbst regeln; es heißt dann, eine tiefergehende Ausbildung des Trainers sei dazu nicht notwendig. Doch sitzen auch an solchen Geräten, die nicht als Medizinprodukte zertifiziert sind, Menschen wie Heinickes, die unter ernsthaften gesundheitlichen Problemen wie Schlafstörungen leiden.

Das zeigt, was passieren kann, wenn eine Behandlungsmethode zum Trend wird, es aber keine Vorgaben gibt: Es entsteht ein Graubereich - und für Patienten die Gefahr, an Personal mit geringem medizinischem oder psychologischem Know-how zu geraten. Gesetzliche Regeln könnten für Klarheit sorgen, doch die gibt es in Deutschland nicht. Die Bezeichnungen Neurofeedback-Therapeut und -Trainer sind nicht geschützt. Auch für die Ausbildung gibt es keine Vorgaben. „Manchmal wundere ich mich schon, wer sich alles als Ausbilder geriert“, sagt Forscherin Strehl. „Es gibt viel Wildwuchs.“ Bisweilen ist schon die Ausbildung auf Leistungssteigerung und Lifestyle ausgerichtet.

AC Mailand-Spieler nutzen Neurofeedback

Wenn Thomas Feiner über Neurofeedback redet, spricht er, als sei er Teil von etwas ganz Großem. „Das ist wie die Erfindung der Dampfmaschine in der Industrie“, sagt er. Der Ergo- und Neurofeedback-Therapeut sitzt im dunkelblauen Anzug in seiner Praxis, hinter ihm Bildschirme mit Hirnstromkurven, an der Wand hängen Elektrodenkappen. Jedes Jahr bildet Feiner nach eigenen Angaben 70 bis 80 Personen zu „zertifizierten Neurofeedback-Therapeuten“ aus. Er führt in München sein eigenes Ausbildungsinstitut, das Institut für EEG-Neurofeedback (IFEN).

Den Ansatz der Deutschen Gesellschaft für Biofeedback, die ebenfalls eine Ausbildung zum Neurofeedback-Therapeuten anbietet, findet Feiner zu eng. Zwar betont er, dass auch ihm das klinische Feld am meisten am Herzen liege. Doch in Zeiten der Leistungsgesellschaft ist Neurofeedback für ihn mehr als eine rein klinische Angelegenheit. In Amerika, wo er seine Zertifizierung als Neurofeedback-Therapeut erlangt hat, sei man viel offener, viel experimentierfreudiger, erzählt er. Diesen Geist will er in Deutschland weitertragen und auch gesunden Menschen Neurofeedback näherbringen.

Deshalb hat er das Peak-Performance-Training in seinem Institut zu einem Schwerpunkt gemacht. Das Training soll mittels Neurofeedback dazu führen, dass man Höchstleistungen wie auf Knopfdruck abrufen kann, ohne dabei viel Energie aufzuwenden. Feiner empfiehlt es unter anderem für Führungskräfte, Sportler und Kreative wie Schriftsteller oder Musiker. Einige Spitzensportler arbeiten bereits damit, zum Beispiel die Spieler des AC Mailand. Zwar ist die Studienlage noch dünn, doch Feiner sagt: „Was für den Spitzensport gut und richtig ist, muss auch für andere Bereiche gelten, wo Leistung verlangt wird.“

Das IFEN bietet eine eigene Ausbildung für das Peak-Performance-Training an. Feiner möchte damit auch Coaches aus den Bereichen Wirtschaft und Sport ansprechen. Auf seiner Website steht in der Beschreibung des Kurses: „Keine medizinischen Vorkenntnisse notwendig.“

Ute Strehl von der Uni Tübingen empfiehlt, sich an Therapeuten zu halten, die die Ausbildung bei der Deutschen Gesellschaft für Biofeedback durchlaufen haben. „Sie ziehen die Wissenschaft immer mit heran“, sagt Strehl, die selbst auch Supervisorin und Dozentin der Gesellschaft ist. Dort können nur Personen aus Gesundheitsberufen die Ausbildung machen. Approbierte Ärzte und Psychologen können den Titel „Neurofeedback-Therapeut“ erlangen, Sportwissenschaftler oder Ergotherapeuten können „Neurofeedback-Trainer“ werden.

Vor einigen Jahren hat die Gesellschaft ihre Standards in der Ausbildung hochgeschraubt. Niepoth erklärt, dass dies „zum Schutz der Patienten“ notwendig gewesen sei. Bis zur Zertifizierung als Neurofeedback-Trainer sind jetzt unter anderem 184 Stunden Theorieausbildung und 30 Stunden Supervision notwendig, deutlich mehr als bei den meisten anderen Ausbildungsinstituten. Am Ende muss ein Abschlusskolloquium abgelegt werden.

Wenn Neurofeedback-Training professionell bei der richtigen Diagnose durchgeführt wird, kann es eine langfristige Wirkung entfalten. Roland Heinickes Behandlung liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück, die Schlafstörungen ist er schon lange los. Manchmal passiert es dennoch, dass er abends im Bett ins Grübeln kommt. Wie mit einer inneren Fernbedienung macht er dann die Gedanken, die ihm Sorgen machen, aus und schaltet zu seiner Löwenzahnwiese in der Steiermark. Meist schläft er dann schnell ein.

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