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ada deep dive: Die Wissenschaft der Komplexität

Komplexes System Ameisenstaat

Wer verstehen will, wie der internationale Bankensektor auf Finanzkrisen reagiert, wie der Klimawandel funktioniert oder wie eine Falschnachricht Demokratien destabilisiert, sollte sich mit Ameisen beschäftigen.


Wenn eine Ameise alleine über einen Tisch krabbelt, hat sie kein Ziel und ist verwirrt. Zwei Ameisen auf demselben Tisch interagieren miteinander. Zehn Ameisen gehen in einer Linie. Und Tausend Ameisen bilden einen Staat.


Diesen Ameisenstaat bezeichnen Wissenschaftler*innen als komplexes System: Es mangelt an einer zentralen Steuerung, keines der Tiere gibt den anderen Befehle. Vielmehr interagieren die einzelnen Insekten miteinander und bilden einen übergeordneten Organismus.


Ähnlich funktionieren andere komplexe Systeme, natürliche wie künstliche: das Gehirn, soziale Medien, Virusinfektionen oder der Aktienmarkt. Dort zum Beispiel bringen steigende Kurse die Anleger*innen dazu, weitere Aktien zu kaufen, was wiederum die Kurse steigen lässt. Das Wissen darüber, dass das Wachstum irgendwann ein Ende haben muss, reguliert den Kaufrausch im besten Fall – weil es auch in einer Hochphase Menschen gibt, die auf sinkende Kurse setzen.


Der Aktienmarkt hat also wie jedes komplexe System eine Art eingebauten Feedbackmechanismus, über den er sich selbst reguliert. Das garantiert allerdings keine Stabilität, denn manchmal kollabieren komplexe Systeme plötzlich oder verändern sich radikal.


Spätestens seit der Finanzkrise im Jahr 2008 ist der Anreiz groß, solche Veränderungen erahnen und beeinflussen zu können. Und inzwischen ist die Technologie so weit, dass sie dabei behilflich sein kann.


Kleiner Effekt, große Folgen


Die Wissenschaft der Komplexität (complexity science) setzt sich aus unterschiedlichen Forschungsbereichen zusammen. Deshalb konnte sie sich erst entwickeln, als aus all diesen Bereichen Erkenntnisse vorlagen – etwa ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine wichtige Grundlage war die Entdeckung der Chaostheorie im Jahr 1959. Seitdem wissen wir, dass Ursache und Wirkung nicht immer linear zusammenhängen. Ein kleiner Effekt kann auf lange Sicht enorme Auswirkungen haben.


Der Physiker und Nobelpreisträger Stephan Hawking prognostizierte bereits bei einer Rede im Januar 2000: "Ich glaube, das kommende Jahrtausend wird das Jahrtausend der Komplexität." Dass er damit Recht behalten könnte, liegt vor allem an der rasanten Entwicklung von Hochleistungsrechnern. Sie helfen dabei, komplexe Systeme zu analysieren und zu visualisieren – denn sie erlauben es, große Datenmengen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen.


Darauf setzt auch Ingo Scholtes, Professor für Data Analytics an der Universität Wuppertal. Der studierte Informatiker beschäftigt sich mit der rechnergestützten Analyse komplexer Systeme. Das wichtigste Gut bei seiner Arbeit sind Informationen, also Daten. "Durch die digitale Transformation haben wir sehr viel größere und präzisere Datenmengen", sagt Scholtes. Damit soll in Zukunft zum Beispiel das Verkehrsnetz der Stadt Wuppertal als komplexes System modelliert werden, um Schwachstellen zu erkennen und auszubessern.

Eine wichtige Technik ist die sogenannte Netzwerkanalyse, bei der komplexe Systeme mithilfe von Punkten ("Knoten") und Linien ("Kanten") dargestellt werden. Die benötigten Computermodelle implementiert Scholtes selbst. Doch es gibt auch viele frei zugängliche Programme wie NetworkX oder Cytoscape, die vorhandene Datensätze automatisch in Netzwerkstrukturen umwandeln können.


Neben der Rechenleistung und dem Zugang zu großen Datenmengen gewinnt die Erforschung komplexer Systeme auch deshalb an Bedeutung, weil Menschen immer mehr dieser Systeme entstehen lassen – ohne ihre Wirkungsweise vollständig durchschaut zu haben.


Um das zu ändern, schließen sich inzwischen scheinbar entfernte Fachleute zusammen, etwa Informatiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen. Computergesteuerte Analysen können dabei helfen, gesellschaftliches Zusammenleben zu modellieren. Umgekehrt sollen die Sozialwissenschaften die Auswirkung von Technologien auf unsere Gesellschaft besser abschätzen.


Ein Beispiel ist die potenzielle Destabilisierung von Demokratien durch Fake News in den sozialen Medien. Die Mathematikprofessorin Karoline Wiesner von der britischen Universität Bristol hat mit einem interdisziplinären Team aus Forscher*innen damit begonnen, die Komplexitätswissenschaft auf demokratische Prozesse anzuwenden.


Ihr Ziel ist es, Informationen zur Stabilität des komplexen Systems Demokratie zu sammeln und herauszufinden, wann und warum diese Stabilität in Gefahr gerät – ein Phänomen namens democratic backsliding. Dafür versucht das Team herauszufinden, welche mathematischen Gesetzmäßigkeiten und Dynamiken innerhalb einer Demokratie wirken und welche Auswirkungen sie auf die Stabilität des Systems haben.


Wichtige Faktoren sind beispielsweise geteilte Normen und Annahmen. Sie bilden das Gerüst des komplexen Systems und dienen als Rahmen für die Interaktion zwischen den Bürgern. Solche Normen können zum Beispiel der Glaube an die Integrität von Politikern und die Ausübung freier Wahlen sein. Erodieren sie oder werden sie gezielt attackiert, gerät das gesamte System ins Wanken. So kann die Nutzung von sozialen Medien und der Konsum darin auftauchender Falschinformationen als Feedbackmechanismus enorme Auswirkungen auf die gesamte demokratische Stabilität haben.


Um diese Normenerosion mithilfe der Netzwerkanalyse modellieren zu können, werden die Bürger als einzelne Komponente dargestellt, die Informationen untereinander austauschen. In dieses Modell können nun verschiedene Eigenschaften eingegeben und damit für die Demokratie wichtige Fragen beantwortet werden. Wie viele Menschen müssen Falschinformationen verbreiten, bis das gesamte Netzwerk daran glaubt? Eine Studie aus dem Jahr 2018, die die Verbreitung von 400.000 Artikeln auf Twitter analysierte, kommt etwa zu dem Schluss, dass es gar nicht so viele sind. Nur ein kleiner Anteil (etwa sechs Prozent) der analysierten Accounts war für knapp ein Drittel der Falschmeldungen verantwortlich.


Viel Zukunftsmusik


Langfristig sollen mithilfe dieser Modelle realpolitische und technologische Entscheidungen getroffen werden.  So könnten Veränderungen in sozialen Medien, wie etwa eine zeitliche Sperre für die Weiterverbreitung von Tweets, zuerst in Netzwerkmodellen erprobt werden. In der Politik sind solche Testläufe beispielsweise denkbar, wenn es um die Auswirkungen von Bildungsprogrammen auf die Medienkompetenz geht.


Anders als bei biologischen oder physikalischen Daten sind die Informationen über Gesellschaften allerdings weniger verlässlich und anfälliger für Fehler. Schließlich sind die Faktoren, die menschliches Verhalten beeinflussen, vielseitiger und unübersichtlicher als die meisten naturwissenschaftlichen Phänomene.


Deswegen gibt auch Karoline Wiesner zu, in ihrer Forschung stecke noch sehr viel Zukunftsvision. Man müsse extrem vorsichtig sein, denn: "Die Daten sind oft von Menschen gemacht" – man hat kein Messinstrument.


Allerdings macht auch die Erhebung gesellschaftlicher Daten große Fortschritte, ebenso wie die Berücksichtigung der zeitlichen Dimension von Interaktionen. Ein Ansatz, an dem Ingo Scholtes gerade im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Forschungsprojekts arbeitet. 


"Zu welchem Zeitpunkt und in welcher zeitlichen Reihenfolge Interaktionen stattfinden, ist sehr wichtig", sagt Scholtes, "zum Beispiel um die Frage zu beantworten, über welche Pfade sich ein Virus durch ein soziales Netzwerk verbreiten kann." Auch die Ausbreitung des Coronavirus‘ kann durch komplexe Systeme verstanden und modelliert werden – denn hinter dem Gebiet der mathematischen Epidemiologie steckt letztlich die Theorie der komplexen Netzwerke.


Insofern hoffen die Forscher*innen, dass die Analyse komplexer Systeme im Zuge der Coronapandemie weitere Fortschritte macht – denn zumindest lernen die Menschen derzeit mitunter schmerzhaft, dass kleinste Veränderungen oft große und mitunter sogar globale Auswirkungen haben.

 


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