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torial Blog | Kryptologen der Völkerverständigung - Wie Dekoder ein differenzierteres Russlandbild zeichnen will

Das Russlandbild in der deutschen Öffentlichkeit ist tendenziell dualistisch. In der allgemeinen Lesart ist Russland das Reich von Putins Gnaden, in dem kritische oder auch nur abweichende Stimmen bereits ausnahmslos unterdrückt sind. In der Perspektive der Pegida-Spaziergänger und sonstiger neuer Rechten, erscheint Russland als armer Sündenbock des bösen Westens, der seine eigenen Machtgelüste verschleiern will. Was diese diametralen Positionen verbindet: Sie setzen die russische Öffentlichkeit mit der lauten Stimme der staatsnahen Medien gleich.


Das vom Journalisten Martin Krohs initiierte Portal Dekoder will ein differenzierteres und vollständigeres Russland-Bild eröffnen. Dazu setzt es auf eine Doppelstrategie: Einerseits werden die Texte unabhängiger russischer Medien übersetzt, um über die Sprachbarriere hinweg die Vielstimmigkeit des innerrussischen Diskurses abzubilden. Flankiert werden die journalistischen Stücke von den wissenschaftlichen Befunden der deutschen Russland-Forschung.


„Russland entschlüsseln" lautet das ambitionierte Programm der überwiegend stiftungsfinanzierten Plattform. Und das tut Not. Schließlich mangelt es nicht nur in den Medien immer noch an Russland-Kompetenz, sondern auch und vor allem in der Öffentlichkeit, so Krohs. „In der breiten Bevölkerung ist das Wissen etwa über die USA oder den Nahen Osten erheblich größer, als über Russland. Das hängt natürlich auch mit der historischen Abtrennung der Sowjetunion zusammen." Stimmen in den Medien seien meist Einzelstimmen, „es fehlt der Kontext".


Verzahnung von journalistischen Positionen und wissenschaftlicher Kompetenz

Diesen Kontext will Dekoder über das Zusammenspiel und die Verzahnung der journalistischen und wissenschaftlichen Inhalte erschließen. Links auf der Seite stehen die übersetzten Medientexte, rechts die sogenannten Gnosen: Wissenschaftliche Texte zum politischen System, einzelnen Politikern wie Außenminister Lawrow, Institutionen wie dem Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum, kulturwissenschaftliche Texte zu Künstlern wie Tolstoi oder Kandinsky, soziologische Perspektiven auf Korruption, Prostitution und Aids in Russland. Denn Dekoder versteht sich weniger als Newsportal, denn als Leseportal: Ein digitales wie dynamisches Kompendium über Russland.


Martin Krohs ist davon überzeugt, dass sich eine solche Hybridisierung aus „Content und Kontext" im Journalismus immer stärker durchsetzen wird. Die Verschränkung von wissenschaftlicher Kompetenz und journalistischen Positionen zieht sich bis in die einzelnen Texte. Wandert man mit dem Mauszeiger über einen blaumarkierten Begriff, erscheint eine Infobox, die eine kurze Erklärung bietet oder auf Hintergrundtexte verweist. „Die Texte in den russischen Medien sind für eine Leserschaft geschrieben, die einen völlig anderen politischen Hintergrund hat", so Krohs. „Schlagworte, die von russischen Lesern direkt verstanden werden, müssen wir für den deutschen Kontext erst aufschlüsseln." Etwa das Parlament, hierzulande zentraler Ort der politischen Entscheidungsfindung, ist in Russland ein sekundäres politisches Organ, das in einer Umfrage gerade mal an 11. Stelle der wichtigsten politischen Institutionen genannt wurde. Auch Begriffe wie liberal, oder Konzepte wie Gerechtigkeit, sind anders konnotiert als bei uns.


Quellen von slon, Wedemosti bis Nowaja Gaseta

Quellen sind etwa Webmagazine wie Slon oder colta, die sich an ein junges, urbanes Publikum wenden, das traditionelle Wirtschaftsblatt Wedemosti für Entscheider in Unternehmen oder die Nowaja Gaseta, die sich durch investigative Recherchen einen Namen gemacht hat und für die Anna Politkowskaja bis zu ihrer Ermordung schrieb. Zwei bis dreimal in der Woche veröffentlicht das fünfköpfige Kernteam neue Inhalte, erstellt wöchentlich einen Newsletter und eine Presseschau. In dieser werden auch die Stimmen staatsnaher Medien abgebildet. Dadurch wird die ganze Breite an Reaktionen etwa zur Dumawahl, dem Ausschluss russischer Sportler von den Paralympics oder dem Treffen zwischen Putin und Erdogan im Juli sichtbar. Die linientreuen Medien erweisen sich dabei überwiegend so paranoid und verschwörungstheoretisch, wie man das bislang angenommen hatte.


Neben Russland-Experten und anderen Personenkreisen, die sich in der Öffentlichkeit zu Russland äußern, wendet sich die Plattform an Russlandreisende oder Menschen, die in gemischten Beziehungen leben. Zu den Zugriffszahlen macht Krohs zwar keine Angaben. Aber für ihn steht ohnehin nicht die Quantität im Vordergrund, sondern welche Nutzer sie mit ihrem Angebot erreichen: „Bei Journalisten, Politikern, Wissenschaftlern und Leuten aus der Wirtschaft ist die Reichweite hervorragend."


Dekodierungsbedarf besteht auch für die russische Öffentlichkeit

Aber wäre nicht auch eine Dekodierung der deutschen Medienlandschaft für Russland interessant? „Tatsächlich wurden wir bei unseren Redaktionsbesuchen in Russland immer wieder mit dieser Idee konfrontiert", sagt Krohs. „Es gibt eben auch in Russland eine Polarisierung zwischen Gruppen, die Europa als Land, in dem Milch und Honig fließt, betrachten, und jenen, die es ebenso undifferenziert verteufeln. Ein solches Projekt würde also sicher auch für die russische Öffentlichkeit einen großen Nutzen bringen."

Doch Krohs und seine Kollegen haben sich zunächst andere Aufgaben gestellt: In Zukunft wollen sie zunehmend auch Videoformate in die Plattform einbinden. Zurzeit arbeiten sie an einer technischen Lösung, Untertitel klickbar zu machen, um das lexikalische Schlagwortprinzip der Plattform auch ins Bewegtbild zu übertragen. Ein weiterer Punkt auf der To-Do-Liste: möglichst bald soll der Dekoder auch auf Englisch erscheinen. Um über eine weitere Sprachbarriere hinweg die Heterogenität des russischen Diskurses sichtbar und lesbar zu machen.

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