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torial Blog | Der neue „Unternehmensjournalismus" oder: Die Umdeutung eines Berufsbildes

Content Marketing breitet sich immer mehr aus. Dies wird nicht nur für die Mediennutzer Folgen haben - auch für die Journalisten.

Ein Interview mit dem Schauspieler Matthias Schweighofer übers Autofahren. Ein großer Themenschwerpunkt über die Flüchtlingspolitik. Eine Reportage über den Alltag eines Herzchirurgen in St. Petersburg. All diese Geschichten sind nicht etwa in klassischen Medien erschienen, sondern in Publikationen von Red Bull, Evonik und Siemens. Unternehmen machen seit einigen Jahren verstärkt ihren eigenen „Journalismus". Der Fachbegriff dafür: Content Marketing (CM).


Der Name deutet es an: Der neue Hype der Kommunikationsbranche entstammt dem Marketing. Da sich die Mediennutzer inzwischen weitgehend immun gegenüber Werbung zeigen, kamen in den USA clevere Marketing-Experten auf die Idee, die Kundschaft mit „nutzwertigen Inhalten" - mit Content - zu ködern. Vereinfacht gesagt handelt es sich also um Marketing mit journalistischen Mitteln.


Beim Native Advertsing, einer weiteren neuen Werbemethode, gestalten klassische Medien bei ihren Online-Auftritten Textanzeigen im Layout bewusst so, dass sie wie redaktionelle Artikel wirken. Beim Content Marketing schaffen sich Unternehmen jedoch ihre eigenen Medien - getreu dem Motto: „Marken zu Medien!" Sie bauen eigene Themenseiten, Blogs sowie Web-TV-Sender auf und verbreiten ihre Artikel und Videos zudem über verschiedenste soziale Medien wie Twitter, YouTube, Instagram, Tumblr oder Facebook.

Als glänzendes Content-Marketing-Vorbild feiert die PR- und Marketing-Szene Red Bull. Der österreichische Brausehersteller hat nicht nur eigene Magazine und YouTube-Kanäle entwickelt, die vorwiegend über die eigenen Extremsport-Events berichten. Red Bull hat auch einen Bestseller-Verlag gekauft und plant, im Laufe des nächsten Jahres einen weltweiten TV-Kanal zu starten. Sicher ein extremes Beispiel, aber beileibe kein Einzelfall. Auch alle DAX-Konzerne, allen voran die Deutsche Telekom, die Deutsche Post, Henkel sowie die großen Autohersteller Volkswagen, Daimler und BMW nutzen lautstark die volle Klaviatur des Content Marketing. Fast schon als Klassiker gilt das Online-Jugendmagazin „Journey" von Coca Cola. Aber es geht auch eine Nummer kleiner - bis weit in den unternehmerischen Mittelstand hinein.


Kundenzeitschriften gibt es freilich schon länger. Und einen Begriff für ihre redaktionelle Produktion auch: Corporate Publishing. Doch es bestehen drei bedeutende Unterschiede zur klassischen Kundenzeitschrift. Der erste: Content Marketing soll vor allem künftige Kunden ansprechen. Der zweite: Es handelt sich nicht in erster Linie um Print-PR, sondern um Online-Marketing. Und der dritte: Die Welle des Content Marketing, die durch die Medienszene schwappt, hat ungleich größere Ausmaße. So hat sich der Verband Forum Corporate Publishing im vorigen Jahr konsequenterweise in Content Marketing Forum umbenannt.


Dessen Vorstand, Andreas Siefke, ist überzeugt, dass das Content Marketing in der publizistischen „Champions League" mitspiele: „Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Projekten, die qualitativ sogar deutlich besser sind als die Zeitschriften der klassischen Medien." Wie kam es zu diesem vermeintlichen Qualitätssprung? Weil Unternehmen in der Regel besser bezahlen und weil in den vergangenen Jahren deshalb immer mehr Journalisten aus ihrer Krisenbranche in das Content Marketing gewechselt sind - zu Unternehmen und Verbänden oder zu einschlägigen Agenturen wie Fischer Appelt oder Serviceplan. Siefke hat eine regelrechte „Wanderungsbewegung" ausgemacht.

Der Verbandschef wie auch andere Key Player aus der Szene sprechen bevorzugt von „Unternehmensjournalismus", wenn sie eigentlich Content Marketing meinen. Nicht ganz ohne Grund. Denn mit der postulierten Aufwertung der Macher und ihrer Content-Produkte wollen sie zugleich auch das bestehende Berufsbild und Selbstverständnis des Journalisten umdeuten. Der Autor, der für die klassischen Medienhäuser arbeitet, soll künftig keinen Alleinanspruch mehr auf die Berufsbezeichnung „Journalist" erheben dürfen.

Eine erste Erosion hat eh schon mit dem Aufkommen der Bloggerszene stattgefunden. Die Content Marketer blasen nun zum nächsten Halali. Auch sie wollen als reinrassige Journalisten angesehen werden. Dies hätte freilich auch Folgen für den Journalismus insgesamt: Er würde in erster Linie nur noch über seine äußere Hülle und sein Handwerkszeug definiert und nicht mehr über seine Funktionen, nämlich Kritik und Kontrolle. Die Folgen für die Meinungsbildung werden nicht ausbleiben: Es drängt mehr interessengeleitete Information in den öffentlichen Raum, Aufklärung und Einordnung geraten dagegen ins Hintertreffen.


In den nächsten Wochen erscheint eine Studie von Lutz Frühbrodt über das Ausmaß des Content Marketing in Deutschland und seine Auswirkungen auf die öffentliche Meinungsbildung. Die Untersuchung wird frei erhältlich sein bei der Otto-Brenner-Stiftung.
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