Stella Kennedy

Crossmediale Journalistin und Kolumnistin, Kiel

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Hilfe bei Essstörungen: Beratungsstellen im Land laufen über

Stand: 17.12.2022 06:00 Uhr

Die Beratungsstelle für Essstörungen "Eß-o-Eß" in Kiel versorgt seit über 25 Jahren Mädchen und Frauen. Doch die Zahl der Menschen mit Essstörungen steigt und die Beratung braucht eine höhere Finanzierung, um handlungsfähig zu bleiben und zu helfen.

von Stella Kennedy

Oft fängt es an mit dem Gefühl, man sei zu dick. Dann beginnen tägliche Gewichtskontrollen und die Sucht, zu protokollieren, was man zu sich nimmt. Am Schluss essen manche Betroffenen nicht mehr als einen Apfel am Tag. Wenn überhaupt. Allein bei uns in Schleswig-Holstein sind knapp 100.000 Frauen und Mädchen statistisch im Laufe ihres Lebens von einer Essstörung betroffen. Bei den Männern und Jungen sind es 26.000, die Situation von transgeschlechtlichen Menschen wird von den Zahlen gar nicht abgebildet - und die Dunkelziffer sei bei allen Personengruppen deutlich höher, sagen Experten.

Notlage bei der Versorgung Erkrankter

Die Versorgungssituation für Menschen mit Essstörungen in Schleswig-Holstein ist prekär. Es gibt gerade einmal zwei überregionale Fachberatungsstellen und nur eine Klinik, die darauf spezialisiert ist, sich um Erkrankte zu kümmern. Für Angehörige von Betroffenen gibt es gar keine Hilfen.

Pamela Zimmermann ist Diplom-Pädagogin und arbeitet in Kiel in der Beratungsstelle "Eß-o-Eß", die seit über 25 Jahren Mädchen und Frauen mit Essstörungen versorgt. "Tagtäglich bekommen wir Anrufe von selbst Betroffenen oder von Angehörigen", erzählt Zimmermann. "Sehr oft sind es Mütter, die sich wirklich auch zu Recht, sehr große Sorgen um ihre Töchter machen und richtig verzweifelt sind", sagt sie.

Entscheidend: Schnelle und professionelle Hilfe

Anorexie, Bulimie, Esssucht, Binge-Eating, psychogene Adipositas, Night-Eating und latente Essstörungen - die Krankheitsbilder der Essstörungen unterscheiden sich, eines vereint aber alle: Wenn eine Person darunter leidet, muss ihr geholfen werden. "Das A und O ist die schnelle Intervention, dann sind die Heilungschancen am größten!", so Zimmermann.

Doch da liegt das Problem. Weil die Zahlen der Betroffenen innerhalb der letzten Jahre so gestiegen ist, es aber nur wenig Hilfsangebote gibt und die Finanzierung des Landes gering ist, kommen viele Esskranke zunächst auf Wartelisten. Dies kann fatal enden.

Das Wartelisten-Problem

"Für uns Mitarbeitende bei Eß-o-Eß ist es wirklich furchtbar, den Betroffenen oder Müttern sagen zu müssen: Wir tun wirklich unser Bestes, aber wir müssen dich oder im Fall der Mütter, deine Tochter, auf die Warteliste setzen und davor sind noch 20 weitere Klientinnen." Die Pädagogin ist über die momentane Situation alarmiert. Sie beschreibt einen Fall, bei dem eine erkrankte Jugendliche anrief, die in den letzten zwei Monaten 14 Kilogramm abgenommen hatte: "Wenn die aber bei uns auf die Warteliste kommt und nochmal drei Monate warten muss, ist sie vielleicht bei 45 Kilogramm. Und das geht ja dann weiter."

Essstörungen nehmen zu

Essstörungen gehören laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu den psychiatrischen Erkrankungen mit der höchsten Sterberate bei Jugendlichen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes starben im Jahr 2020 deutschlandweit 80 Menschen aufgrund von Essstörungen. Die Zahl ist damit gegenüber dem Vorjahr um mehr als 20 Prozent gestiegen.

Für die Mitarbeitenden bei "Eß-o-Eß" könnte der Missstand in der Versorgung der Betroffenen hier in Schleswig-Holstein mit einer ordentlichen Finanzierung des Landes entgegengewirkt werden. "Es bedarf in allen Fällen ganz dringend professioneller Hilfe und Expertise. Wir könnten so viel mehr leisten, aber all das krankt daran, dass wir nur mit 30.000 Euro vom Land und 52.000 Euro von der Stadt ausgestattet sind, das ist viel zu wenig", sagt Zimmermann.

Land verspricht mehr Geld für soziale Hilfen

Doch es gibt auch positive Anzeichen für einen Wandel. Zuletzt wurde vergangenen Mittwoch der neue Rahmenstrukturvertrag des Landes für soziale Hilfen bekannt gegeben, der auch Beratungsstellen wie "Eß-o-Eß" eine zwanzig Prozent höhere Finanzierung verspricht. Pamela Zimmermann findet das allerdings "lächerlich". Sie sagt: "Wenn man das umrechnet und ins Verhältnis setzt, sind das 6.000 Euro, die bei uns ankommen." Sie wünscht sich Gespräche mit der Landesregierung - und eine ergänzende Finanzierung.

Präventivarbeit an Schulen

Bei anderen Erkrankungen funktioniere das auch, so Zimmermann. "Wäre ich Alkoholikerin, hätte ich flächendeckend ein Suchtberatungssystem, an das ich mich wenden kann, mehrere Beratungsstellen pro Stadt und pro Kreis. Aber mit Essstörungen steht man echt fast alleine da."

Dass Vorort-Beratungen funktionieren, sieht man an einzelnen Projekten. Zimmermann berichtet vom "Gänseblümchen-Projekt", was "Eß-o-Eß" an Kieler Schulen durchführt. Da seien es oftmals die Lehrkräfte, die sich an die Beratungsstellen wendeten.

Ursachen für Essstörungen hochkomplex

"In ganz vielen Klassen gibt es oft mehrere Betroffene", sagt sie. Eine Fachberaterin für Essstörungen würde dann Unterrichtseinheiten und Informationsgespräche führen. Die Themen seien dabei unter anderem die Auseinandersetzung mit dem gängigen Schönheitsideal, kritischer Umgang mit Werbung und die Bewertung der eigenen Ernährung. Da die Ursachen für Essstörungen sehr vielfältig und komplex sind, muss das Thema vielschichtig angegangen werden, sagt Zimmermann.

Eine konkrete Maßnahme, erkärt Zimmermann, wäre es, wenn zumindest die gesellschaftlichen Faktoren angepackt würden: "Gerade Mädchen und Frauen, aber auch bei Männer und Jungs, müssen heute dünn und durchtrainiert sein, was einen Fitnesswahn und eine Essstörung auslösen kann. Das wird alles nochmal befeuert durch Instagram, TikTok und Co." Auch Filter spielten eine große Rolle. "Diese Möglichkeiten, Filter über Körper und Gesicht zu legen, so dass die Haut glatt ist, die Augen groß, die Taille schmal - da wird einer Illusion hinterhergejagt, die es gar nicht gibt."

Filter kenntlich machen?

Eine Lösung? "Zum Beispiel, dass explizit geschildert wird, wenn auf Fotos Filter verwendet wurden, Models retuschiert wurden - dass einfach das gängige Schönheitsideal einfach in die natürliche Richtung gelenkt wird, das wäre ja alles möglich", sagt Zimmermann. "Aber dafür muss die Dramatik der Situation von den Entscheidern in der Politik gesehen und anerkannt werden."

Der Förderverein "Eß-o-Eß Frauenberatung e. V." freut sich über Spenden. Er ist als gemeinnützig anerkannt und die Spende ist von der Einkommenssteuer absetzbar. Die Spende kommt direkt der Arbeit mit betroffenen Frauen zugute. Förderverein Frauenberatung e. V. Fördesparkasse Kiel IBAN: DE26 2105 0170 1400 0272 70, BIC: NOLADE21KIE

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NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 16.12.2022 | 14:39 Uhr Schlagwörter zu diesem Artikel
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