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Ukrainische Geflüchtete: "Um ein Uhr nachts stand sie vor mir"

Der 24. Februar, also der Tag, an dem die Russen in die Ukraine einmarschierten, hat für mich wie immer mit meinem Handywecker angefangen. Dann habe ich den Deutschlandfunk eingeschaltet. Putin, Panzer, Invasion. Für mich hat es sich so unwirklich angefühlt, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Ich war wie paralysiert. Ich bin zur Arbeit geradelt, die AirPods im Ohr, die Radiomoderatorinnen sprachen vom Krieg. Im Büro bin ich meinen üblichen Tätigkeiten als Journalistin nachgegangen, habe E-Mails verschickt, Telefonate geführt, recherchiert. Gegen elf Uhr stand ich an der Kaffeemaschine und ein Kollege fragte: "Sag mal, sind wir jetzt eigentlich im Krieg?" Stille.

Es war kein Artikel, keine Push-Nachricht, kein Hörfunkbeitrag, keine tagesschau. Es war diese eine Frage, die mich in meinem alltäglichen Rausch innehalten ließ. Pause. Und die Information drang zu mir durch: Das passiert hier gerade wirklich. Es ist Krieg. Und das wird mich und die ganze Welt voraussichtlich noch lange begleiten. Ich checkte alle fünfzehn Minuten Twitter und Instagram, konnte mich kaum noch loszerren von meinen Nachrichten-Feeds. Obwohl ich versuchte, die News gesund zu dosieren.

Ich hatte die ganze Zeit Kontakt mit einer befreundeten Reporterin, die viel über Migration in Europa berichtet. Sie hatte eigentlich geplant, nur drei Tage aus Polen zu berichten. Jetzt, zwei Wochen nach der Invasion, ist sie immer noch da. Sie schrieb: "Ich habe gerade 15 Stunden durchgearbeitet und gehe jetzt schlafen." Ich schrieb: "Sag Bescheid, wenn du was brauchst." Stunde für Stunde wurden mir immer mehr Posts von Hilfsorganisationen in meine Timelines gespült: Sachspenden ab 18 Uhr im Hinterhof in der Reichenberger Straße, Geldspenden an dieses Konto, wer helfen will, meldet sich unter jener Nummer.

Abends schrieb mir ein Freund: "Tasnim, du hast doch letztens ein WG-Zimmer in Berlin gepostet. Weißt du, ob das noch frei ist? Für eine ukrainische Familie?" Das war der Moment, an dem ich beschloss, mein Zimmer für ukrainische Geflüchtete anzubieten. Es war wie ein kleines Erwecken: Natürlich konnte ich mehr machen, als Nachrichten zu lesen. Erst vor vier Wochen war ich in meine eigene Wohnung gezogen. Jetzt hatte ich den Platz und konnte frei über ihn verfügen - warum also nicht teilen? Ich hatte keine Angst, ich hatte keine Sorgen, ich hab einfach gemacht. Es war ein sehr impulsiver Gedanke, den ich sofort in die Tat umsetzte.

Ich schrieb der befreundeten Journalistin in Polen, dass sie sich bei mir melden solle, wenn sie jemanden trifft, der oder die eine Unterkunft in Berlin braucht. Am nächsten Tag schrieb sie: "Ich hab hier jemanden!" Keine zwölf Stunden später telefonierte ich mit Doha, die in Odessa Pharmazie studiert und jetzt auf der Flucht war. 1800 Kilometer liegen zwischen Odessa und Berlin. Als ich sie am Telefon fragte: "How are you? When will you arrive?", saß sie in einem vollgepackten Zugabteil bei Posen in Polen, im Hintergrund Babygeschrei. Sie antwortete: "I don't know, I am scared." Doha ist Marokkanerin, und nicht-weiße Personen haben es auf der Flucht besonders schwer, viele von ihnen sitzen in der fest, das war zu diesem Zeitpunkt schon durch die Medien gegangen. Rassismus macht eben an keiner Grenze halt.

Um ein Uhr nachts stand sie dann vor mir, 19 Jahre jung, mit einer vollgepackten Sporttasche, an den Füßen weiße Nike-Sneaker. Und: Sie lachte und umarmte mich, so froh war sie, endlich angekommen zu sein. Ich konnte es gar nicht glauben, wie jemand, der gerade fünf Tage auf der Flucht war, so fröhlich sein konnte. Noch in dieser Nacht erzählte sie mir, wie sie fast zehn Kilometer durch Polen gelaufen ist, weil die Autobahnen so verstopft waren, dass sie sich mit dem Auto keine zwei Meter fortbewegen konnten. Wie sie an der deutsch-polnischen Grenze ausharrte und ihre vier Freunde und Freundinnen verlor. Wie sie alleine wieder zurück in die polnische Stadt Lwiw lief, weil sie nicht mehr daran geglaubt hatte, dass sie es schaffen würde, die Grenze zu überqueren. Zu viele Menschen warteten. Wie sie unter ihren Periodenschmerzen litt, während sie in der Kälte ausharrte. Wie sie Menschen erfroren auf dem Boden liegen sah. Und wie sie einen jungen Mann traf, der sie überredete, es doch zu versuchen, die Grenze nach Deutschland zu passieren. Und wie sie es tatsächlich schaffte.

In einem grauen Pyjama saß sie in meinem Ohrensessel vor mir, es war zwei Uhr nachts und ihr Handy hörte nicht auf zu klingeln und zu vibrieren. Alle zehn Minuten telefonierte sie mit Menschen auf Arabisch, ich vermute, es war ihre Familie. Tag für Tag leben wir uns mehr auf meinen 40 Quadratmetern ein: Ich schlafe in der Küche auf der Schlafcouch, sie in meinem Zimmer. Ich fahre ins Büro, sie trifft meine Freundinnen auf einen Kaffee. Wenn ich von der Arbeit komme, stehen manchmal geschmierte Brote auf dem Tisch. Ich schreibe E-Mails an Beratungsstellen und telefoniere mit befreundeten Juristinnen. Sie fragt mich immer wieder: "Where can I study? Where can I learn German?"

Wenn ich ganz ehrlich bin, dann habe ich die Situation unterschätzt. Ich dachte, sie sei viel älter. Oft plagt mich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht mehr Zeit mit ihr verbringen kann. Manchmal schreibt sie abends: "What can I cook for you?" und ich lehne dankend ab, weil ich noch auf der Arbeit sitze und nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Trotzdem bin ich froh über unsere Begegnung. Ich habe viel von ihr und auch an der Situation gelernt. Ich habe eine neue Freundin gewonnen und sie hoffentlich auch. Bald wird sie in eine WG ziehen und ich hoffe, dass sie in studieren kann.

Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Ihr Leben verändert hat und von dem Sie erzählen möchten? Dann schreiben Sie uns an: wendepunkt@zeit.de

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