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Eine Pinnwand voller Spenden

© Schempp

Kleine Geste mit großer Wirkung: Einen Kaffee beim Bäcker trinken, den zweiten einem Bedürftigen spendieren. Das Prinzip „Suspended Coffee" kommt in Städten in ganz Europa gut an. Doch funktioniert die Idee auch in Rodgau? Gerwine Ogbuagu und Renate Haller wollen es in mit einer Pinnwand probieren. 

Es war ein Facebook-Eintrag, auf den Gerwine Ogbuagu vor ein paar Wochen aufmerksam wurde. Beim Durchklicken stieß sie auf ein Foto von einem alten Mann mit blau gefrorenen Händen, der einen Kaffee schlürft. Darunter die Aufforderung: „Bitte redet mit dem Bäcker und dem Wirt eures Vertrauens, bei dem Ihr Stammkunde seid!" Der Text wirbt für ein Hilfsprojekt, das in ganz Europa bekannt ist: der sogenannte aufgeschobene Kaffee oder im Englischen „Suspended Coffee". Die Idee dahinter: Jeder, der möchte, kauft bei einem teilnehmenden Bäcker oder im Café zu seinem Getränk ein zweites dazu. Die Spende wird entweder in Form eines Gutscheins, eines Kassenbons oder in einer Liste vermerkt und kann von Menschen mit geringem Einkommen eingelöst werden.

Das Prinzip funktioniert nicht nur bei Genussmitteln. Auch Mahlzeiten oder Dienstleistungen wie ein Haarschnitt können vorbezahlt und an andere weitergegeben werden: Eben an diejenigen, die dafür kein Geld haben. In der Hoffnung, das Projekt auch in Rodgau umsetzen zu können, machte Gerwine Ogbuagu dafür Werbung in der Facebook-Gruppe „Rodgau Erleben". Es kamen viele Reaktionen aus der 5 000 Mitglieder starken Gruppe, die die Aktion befürworten und sich als Spender anboten. „Es hat so ein tolles Echo gegeben", freut sich Ogbuagu.

Doch die erhoffte Reaktion bei den Bäckern in Rodgau, die das Projekt in die Tat umsetzen könnten, blieb aus. Als erste und bisher einzige Einzelhändlerin hat sich Renate Haller vom gleichnamigen Bioladen in Jügesheim zum Mitmachen bereit erklärt. Hallers Erklärung für die mangelnde Resonanz der Bäckereien: Eine gewisse Klientel seit dort nicht gerne gesehen. „Es gibt genug Leute, die von Hartz 4 leben und froh wären, wenn sie mal einen gepflegten Kaffee oder ein Stück Käse bekämen", glaubt die Geschäftsfrau. In Wiesbaden verkauft die Bäckerei-Kette „Walser Brot" nach dem Vorbild der aufgeschobenen Kaffees seit Anfang des Jahres Gutscheine, die über die örtliche Obdachlosenhilfe an Bedürftige weitergegeben werden. „Es wird sehr gut angenommen, besonders in der kalten Jahreszeit", resümiert die Filialleiterin Manuela Walser. In den vergangenen Monaten gingen bereits ein paar Hundert Gutscheine über die Ladentheke. Holen die Obdachlosen ihren Kaffee, das Stück Kuchen oder Käsebrötchen in einer Bäckerei ab, halten sie sich dort nicht lange auf, beobachtet Walser - zu groß sei die Hemmschwelle. Dabei könne ein ähnliches Schicksal jeden treffen. „Es ist keine Schande, arm zu sein", sagt die Verkäuferin.

In ihrem Laden in Jügesheim möchte Renate Haller die Idee der aufgeschobenen Kaffees ausweiten. Der Kunde kann eine Ware auswählen und gleich bezahlen. Der Kassenzettel wird aufgehoben und an die dafür vorgesehene Pinnwand gehängt. Wer das Produkt haben möchte, nimmt sich den Bon dort weg und löst ihn an der Kasse ein.

„Eine schöne Idee", findet eine Kundin, die gerade an der Käsetheke steht. Sie gibt jedoch zu bedenken: Die Pinnwand sollte an einem diskreten Ort stehen. „Das sollte nicht jeder sehen können, damit keine Beschämung erfolgt", findet sie. Denn: anders als in Großstädten wie Frankfurt leben in Rodgau keine Wohnungslosen auf der Straße. Die Armut ist nicht gleich ersichtlich. Das wissen auch Gerwine Ogbuagu und Renate Haller. Immer wieder beobachten die beiden aber Menschen, die sich auf öffentlichen Toilette waschen. „Ich wünsche mir, dass wir nicht die Einzigen bleiben, die bei der Initiative mitmachen", hofft Renate Haller. „Und dass die Aktion weite Kreise zieht, über Rodgau hinaus", ergänzt Gerwine Ogbuagu.

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