Olena Zgurska schaut besorgt nach oben, wo über ihrem Kopf ein großes Loch in der Decke klafft. Die 56-Jährige steht im Flur der weiterführenden Schule und betrachtet das demolierte Mobiliar. „Der Sommer war schrecklich für die Kinder, weil es jeden Tag Gefechte gab", erzählt Olena Zgurska. Und fügt hinzu: „Wir sind müde vom Krieg." Zgurska ist die Direktorin der Schule in Krymske. Das ostukrainische Dorf liegt rund 40 Kilometer von der Großstadt Luhansk entfernt am Siwerskyj Donez, einem Nebenfluss des Don.
Seit 2014 tobt der blutige Konflikt zwischen ukrainischen Streitkräften und prorussischen Rebellen, die einen Teil der Ostukraine besetzt und die Volksrepubliken Luhansk und Donezk ausgerufen haben. Russland bestreitet offiziell seine Beteiligung, obwohl Medienberichte nahelegen, dass Moskau mit Soldaten und Material die Separatisten unterstützt. Rund 11.000 Menschen starben in den Kämpfen, darunter etwa 3000 Zivilisten. Schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen haben ihre Heimat verlassen. Aus der Weltöffentlichkeit ist der Konflikt weitgehend verschwunden - doch für Olena Zgurska und ihre Schüler ist er Teil des Alltags.
Ein Trakt der Schule in Krymske ist seit Jahren nicht mehr benutzbar, seitdem Granaten das Dach durchschlugen. Aber die gravierendsten Schäden sind nicht die materiellen: Die Gefechte haben auch Spuren auf den Seelen der Schüler hinterlassen. Einige leiden unter psychischen Problemen und Schlafstörungen - doch Unterstützung ist immer schwerer zu bekommen. „Am Anfang des Krieges hatten wir noch Hilfe von Psychologen, aber mittlerweile kaum noch. Die Kinder haben Angst", sagt Olena Zgurska.
Eine Aufwärtsspirale der GewaltIn der idyllisch gelegenen Ortschaft, die vor dem Krieg von rund 1500 Menschen bewohnt wurde, schlagen immer wieder Granaten der Separatisten ein. Die „Kontaktlinie", wie die Grenze zwischen den verfeindeten Truppen genannt wird, verläuft direkt am Rande des Ortes. 2014 stand Krymske zeitweise unter Kontrolle der prorussischen Rebellen. Dann wurde es zurückerobert. „Das ist ein Krieg der Reichen, der Oligarchen", klagt der 16 Jahre alte Schüler Mykola, ein hübscher Junge mit dunkelblonden Haaren. Vielen Kindern sei der Krieg mittlerweile gleichgültig, sie hätten sich an die Gefahr gewöhnt, sagt die Direktorin.
Segnet Waffen und Soldaten: Militärseelsorger Pater Gennadi (li.). Foto: Sylvio HoffmannDer Alltag für die Menschen in Krymske und vielen anderen Orten ist beschwerlich. Ärzte haben ihre Praxen verlassen, Busse fahren seltener oder gar nicht mehr, Lebensmittelläden mussten schließen. Hinzu kommt die Gefahr durch Gewehr-, Panzer- oder Granatenbeschuss. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellte erst vor wenigen Wochen eine „Aufwärtsspirale der Gewalt" fest. Wer konnte, hat die Heimat verlassen. Vor allem die Alten bleiben in den frontnahen Gebieten zurück. Selbst Sportvereine wie Schachtar Donezk sind betroffen. Der mehrfache ukrainische Meister und Uefa-Pokalsieger von 2009 trägt seine Heimspiele mittlerweile in Charkiw aus.
Mehr zum ThemaDoch es gibt auch Gruppen, die versuchen das Geschehen für ihre Zwecke zu nutzen. Eine davon ist die „Good News Church", eine evangelikale Kirche aus den USA. In einem Flüchtlingsheim in der Nähe von Slaviansk, etwa 20 Kilometer westlich von Krymske, sitzt Militärseelsorger Pater Gennadi bei Kaffee in seinem Büro. An der Tür hinter dem Bärtigen hängt ein Poster des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Über Putins Kopf befindet sich ein Fadenkreuz, dessen Mitte auf die Stirn zielt. „Mit Gottes Hilfe werden wir siegen", sagt der Pater, ein großes silbernes Kreuz um den Hals. Der Geistliche leistet ukrainischen Soldaten Beistand, segnet sie und ihr Kriegsgerät. Neben den spirituellen Aktivitäten leisten die Gemeindemitglieder auch humanitäre Hilfe.
US-Kirchen missionieren im KriegIn der Ostukraine versuchen protestantische Kirchen wie die Good News Church und andere US-Freikirchen die mehrheitlich orthodoxen Gläubigen zu missionieren. Teils sind sie schon seit dem Ende des Kommunismus im Land, teils erst seit wenigen Jahren. In einer Kirche in Slaviansk werden Gemeindemitglieder zu Missionaren ausgebildet.
Autowracks, davor ein Grab, verziert mit Blumen und Patronenhülsen. Foto: Sylvio HoffmannDie Evangelikalen sehen in dem Konflikt eine Möglichkeit, an Einfluss zu gewinnen. „Zur Religion zu finden, war im Krieg schon immer leichter. Wenn die Angst kommt, sind die Menschen offen für Gott", sagte Ljubow Schpichernjuk, ein Missionar, der „New York Times". Zweifler werden mitunter durch weltliche Gaben wie Brot oder Feuerholz zum Übertritt überzeugt. Die orthodoxen Geistlichen sehen diese Geschenke kritisch: Die US-Kirchen sind in ihren Augen Teil eines „spirituellen Krieges".
Am Rande der rund 500 Kilometer langen Kontaktlinie, die das Industrierevier Donbass zerschneidet, finden sich immer wieder Zeugnisse vergangener Kämpfe. Verrostete Skelette von Panzern und Militärfahrzeugen stehen an einer Straße in der Nähe von Donezk. Gräber von Gefallenen - einige der Männer waren gerade 20 Jahre alt - sind mit Blumen, Patronenhülsen und Zigaretten geschmückt. Auch die Toten sollen rauchen können.
„Die Welt hat uns vergessen", sagt Schuldirektorin Olena Zgurska. Foto: Sylvio HoffmannTausende Zivilisten passieren täglich die Übergänge zwischen den sogenannten Volksrepubliken und der Ukraine. Etwa um Verwandte zu besuchen oder die Rente einzulösen. Ein Austausch findet weiter statt. „Die Russen sind unsere Brüder", sagt ein ukrainischer Soldat, der nicht genannt werden will. „Aber nicht als Sklaven unter Sklaven."
Selbst wenn es so etwas wie Zusammenhalt geben sollte: Der Kampf gegen die Terrormiliz „IS", die gestiegene Terrorgefahr, die Flüchtlingskrise in Europa und auf Seiten Russlands das Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg haben den Fokus der internationalen Politik von der Ostukraine fortbewegt. Der Krieg ist so nah - und wirkt von Europa aus betrachtet doch so fern. Für die Menschen in den umkämpften Gebieten eine tragische Entwicklung, beklagt Olena Zgurska, denn sie zeige: „Die Welt hat uns vergessen."