Der Sonntagsklassiker: Ich stehe in der Küche, will anfangen - und irgendwas fehlt. Heute Zitronen, ohne die das geplante Hummus sicher nicht so lecker wird. Helene fragen? Treppe runter. Ding-Dong! Haste mal ...? Paar Minuten später kann es losgehen. Helene wiederum braucht eher Hilfe beim Fahrradwarten. Als Dankeschön gibt es ab und zu einen Kuchen oder ein Glas mit etwas Leckerem darin. Wir leben schon lange im selben Haus, aber näher kennengelernt haben wir uns erst vor einem Jahr durch einen Notfall. Auch das ist ein Klassiker.
Oft zeigt sich gerade in Ausnahmesituationen, wie gut der Einzelne in seiner Nachbarschaft eingebettet ist. Die Journalistin Erdtraut Mühlens erlebte auf Sri Lanka einen Tsunami, und sie überlebte vor allem dank der Nachbarschaftshilfe vor Ort. Als sie nach Deutschland zurückkehrte, gründete sie die bundesweit erste Online-Plattform zur Vernetzung von
Nachbarn unter www.netzwerk-nachbarschaft.de.
Heute kann man dort etwa nachlesen, wie man eine Tauschbörse im Viertel organisiert, wie man einen Nachbarschaftsladen oder ein Museum gründet und wird bei Bedarf unterstützt. Für Mitglieder gibt es Checklisten zum Download, um bei solchen Vorhaben den Überblick zu behalten: Von der Gründung einer Baugemeinschaft bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit für ein eigenes Projekt.
Außerdem will Erdtraut Mühlens ermutigen und Impulse geben. Deshalb lobt sie jedes Jahr mindestens einen Wettbewerb aus. Ausgezeichnet werden Initiativen, die der Nachbarschaft neuen Schwung geben. Letztes Jahr etwa gewann eine Gruppe in Bremerhaven, die ein Gebäude gekauft hat, um es zu einem offenen Treffpunkt für Kreative zu machen. Die Jury lobte, wie die Initiative das „solidarische Miteinander und den starken Zusammenhalt im Wohnumfeld stärkt."
Ganz ähnlich läuft es bei der 2015 gegründeten Online-Plattform www.nebenan.de. Das Angebot ist auf Menschen zugeschnitten, die soziale Medien bereits selbstverständlich nutzen. Anmeldung geht nur mit Klarnamen und Einladung oder Verifizierung. Das stellt sicher, dass nur echte Nachbarn dabei sind. Die Vernetzung funktioniert ähnlich wie bei Facebook. Man kann sich die Profile der Nachbarn (mit Bild, Name, Adresse und Hobbys) recht genau anschauen und mit ihnen direkt in Kontakt treten. Tatsächlich wird das gut genutzt und reicht vom Treffen auf ein Käffchen über die Verabredung zum Urban Gardening bis zum Nachbarschaftsstammtisch. Und wem etwa die Schildkröte entlaufen ist, der kann sie hier wiederfinden.
So viel Offenheit ist vielleicht nicht immer gewünscht. Schließlich versteht sich nicht jeder mit jedem. Anonymität und höfliche Distanz ist mitunter recht angenehm, um Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen und die gegenseitige Toleranz nicht überzustrapazieren. Verschiedene Forschungsarbeiten zeigen, dass Ärger in der Nachbarschaft die Atmosphäre insgesamt vergiften und sogar Krankheiten wie Depressionen verursachen kann.
Doch die Vorteile überwiegen. Seit 2017 verleiht die nebenan.de-Stiftung den Deutschen Nachbarschaftspreis, der besonders gelungene Initiativen auszeichnet und bekannt macht. Unter den Siegern waren letztes Jahr die „Optimisten", drei Männer und sieben Frauen aus dem thüringischen Kieselbach. Sie beeindruckten die Jury mit Veranstaltungen, „die das Leben zurück ins Dorf holen." Was auch immer die „Optimisten" planen - ob Frühstückstafel, Konzert oder Theaterstück - am Ende steht ein großes Benefiz-Event, an dem alle im Dorf beteiligt sind. Nach ihrem Erfolgsrezept gefragt, antwortet Katrin Biermann: „Bei uns läuft alles basisdemokratisch, unkompliziert, schnell. Jeder hat ein Talent und jeder hat eine Begabung - so verteilen wir die Aufgaben." Organisiert wird dann über Whatsapp oder Telefon. Der Vorsitzende Franz Paul Hüsgen ergänzt: „Es machen alle mit - und hinterher sind dann auch alle zusammen stolz, was daraus geworden ist."
Die erste Aktion vor zwölf Jahren war eine Frühstückstafel quer durchs Dorf mit 5000 Gästen. Auf jedem Tisch stand ein Sparschwein. Am Ende waren 15 000 Euro zusammengekommen für einen Kinderspielplatz in dem 1700-Seelen-Dorf. Die nächste Aktion der „Optimisten" war eine Aufführung der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens als Open-Air-Theater am vierten Advent bei minus zwölf Grad und Schneegestöber.
Katrin Biermann erinnert sich: „Da haben wir unseren Namen ‚Optimisten' her. Im Vorfeld wurden wir immer wieder gefragt: Was habt ihr denn für eine Schlechtwettervariante? Wir immer nur: ‚Das wird gut gehen.' Damit war es für uns erledigt. - Es ist dann nicht nur gut gegangen, es war märchenhaft! Alle hatten auf ihren Mänteln, Hüten und Mützen Schneehäubchen sitzen. Das war so schön."
Es stellt sich die Frage: Sind Landnachbarn besser als Stadtnachbarn? Der Soziologe Sebastian Kurtenbach von der Fachhochschule Münster meint: nein. Denn: „Das würde ja heißen, auf dem Dorf achten alle Leute aufeinander und in der Stadt nicht. Das stimmt so schon lange nicht mehr. Die gegenseitige soziale Kontrolle auf dem Dorf ist sicher einfacher, aber nicht immer gegeben. Das zeigen Extrembeispiele wie die schweren Misshandlungen von Frauen in Höxter-Bosseborn, wo die Nachbarn sehr wahrscheinlich etwas mitbekommen, aber nicht eingegriffen haben. Andererseits sehen wir bei vielen Nachbarschaftshilfen in Großstädten, dass die Leute aufeinander achten." (siehe Interview unten auf dieser Seite)
Tatsächlich gibt es vor allem in Großstädten spannende Projekte, die über den Tausch von Zitronen hinausreichen. Ein Beispiel ist der „Tag des Guten Lebens": Die Idee dazu hatte der in Köln lebende, italienische Soziologe Davide Brocchi. Seit 2012 sind an diesem Tag alle Menschen des Viertels Köln-Ehrenfeld eingeladen, ihre Vision eines guten Lebens umzusetzen. Die einzige Vorgabe: Es darf nichts gekauft oder verkauft werden. Das Projektteam organisiert hierfür jedes Jahr 3000 alternative Parkplätze. Sobald die Autos aus dem Viertel sind, übernehmen die Menschen den öffentlichen Raum. Die meisten räumen Tische, Stühle, Sofas auf die Straße und laden zum Essen und Trinken unter freiem Himmel ein.
Den Nebeneffekt dieser Aktion beschreibt Davide Brocchi in einem Vortrag so: „Die Bürger erleben, wie viel Fläche für Autos verschwendet wird. Jedes Auto bleibt im Schnitt 23 Stunden pro Tag auf einem Parkplatz." Der „Tag des guten Lebens" ist mittlerweile zu einer Institution geworden. Seit 2012 nutzen die Ehrenfelder einmal im Jahr sehr kreativ ihren autofreien Nachbarschaftssonntag.
Gemeinsame Aktionen wie diese, die die Lebensqualität eines Viertels und seiner Bewohner anheben, bezeichnen Soziologen als „Commoning" - und die entsprechenden, selbstorganisierten Strukturen als „Commons". Der Ansatz ist offenbar so schön, dass er weltweit Anhänger hat. Silke Helfrich und David Bollier schreiben ausführlich darüber in ihrem Buch „Frei, fair, lebendig - die Macht der Commons". Eines ihrer Beispiele ist der private Pflegedienst Buurtzorg (gesprochen: „Bürtsorg") aus den Niederlanden.
Pflege, die sich nach den Bedürfnissen richtetDer Krankenpfleger Jos de Blok und Kolleginnen gründeten den Dienst vor zehn Jahren. De Blok sagt: „Die Qualität der bestehenden häuslichen Pflege wurde immer schlechter, die Zufriedenheit der Menschen nahm ab und die Kosten gingen in die Höhe." Denn üblichen Konzepten unterliegt Pflege einem straffen Leistungskatalog und Zeitraster. Effizienz ist maßgeblich.
Bei Buurtzorg verwalten die Pflegekräfte sich in kleinen Teams selbst und besprechen mit den zu Pflegenden vorab, was zu tun ist. Eine Begleitstudie aus dem Jahr 2009 zeigt, dass der Mix aus Zuwendung, Absprache und offenen Zeitplänen eine zufriedenstellende Versorgung ermöglicht. Und dabei benötigen die durch Buurtzorg betreuten Menschen 50 Prozent weniger Pflege als von der Arztpraxis verschrieben.
Aus der kleinen Nachbarschafts-Initiative ist in den Niederlanden eine große Arbeitgeberin geworden. 14 000 Kräfte sind angestellt und versorgen 110 000 Menschen im ganzen Land. Damit die ursprüngliche Idee nicht verlorengeht, bleibt die Zufriedenheit der Menschen im Mittelpunkt, nicht Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Dienstes. Buurtzorg gibt es mittlerweile auch in Deutschland.
Nachbarschaften, die aufmerksam zusammenhalten, machen glücklich. Auch das zeigen Forschungsarbeiten. Das Glück mehrt sich, je mehr Erlebnisse man miteinander teilt. Und wenntatkräftige Visionäre im Viertel leben, lässt sich richtig was bewegen. Doch oft machen gerade die unscheinbaren Dinge den Unterschied. Wenn von der Party in der Studenten-WG noch Chili übrig ist, freut sich vielleicht der Opa von obendrüber! Angebot ins digitale Nachbarschaftsnetzwerk stellen und abwarten, was passiert. Vielleicht nichts. Aber vielleicht macht dieses Ding-Dong! im Netzwerk den Kiez ein wenig menschlicher.
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