Treffen ist am Bahnhof. Auf dem Parkplatz herrscht reges Treiben. Zahlreiche Ausflügler sind mit dem Auto unterwegs, auffällig viele mit niederländischem Kennzeichen. Ein älteres Paar will mit dem Rad die Ahr entlang fahren. Ob die beiden die Landrätin erkennen, als sie sie ansprechen, um sich nach dem Zustand der Straßen zu erkundigen? Jedenfalls gibt Weigand ihnen angesichts des in Altenahr noch nicht wiederhergestellten Radwegs den Rat, noch mal ins Auto zu steigen und einige Kilometer flussaufwärts mit der Tour zu starten. Auch wir machen uns auf den Weg. Nur Weigands Fahrer mag nicht mitkommen. Vielleicht ahnt er, was gleich vom Himmel herunterkommt.
Als Verbandsbürgermeisterin erlebte Weigand die Flutnacht in Altenahr hautnah. Tagelang hatte es zuvor geregnet. Vor dem Rathaus stürzte bereits am Nachmittag des 14. Juli der Roßbach, der dort eigentlich durch Rohre geleitet wird, in reißendem Tempo die Straße hinab. Im Rathaus selbst drang immer mehr Wasser in den Keller ein. Weigand drehte persönlich die Sicherungen heraus. Solange es noch möglich war, verfolgte sie vom Computer in ihrem Büro aus die Prognose für den Pegel der Ahr. Diese war zunächst deutlich zu niedrig angesetzt. Bei etwa sechs Metern riss der Pegel dann ab, am Ende stieg das Wasser bis auf etwa zehn Meter. Menschen mussten mitunter auf Dächern ausharren, von wo sie um Hilfe riefen. Weigand verbrachte die Nacht im Haus eines Feuerwehrmanns, das sich in einem höher gelegenen Neubaugebiet befindet. Am nächsten Morgen begab sie sich zur Burg Are, um von oben auf Altenahr schauen zu können. Dabei sah sie etwa Bahngleise, die in der Luft hingen – aber nicht die Brücke darunter. Denn diese wurde von den Fluten fortgerissen.
Heute blickt die Landrätin so auf die Katastrophe zurück: „Wir wussten nur: Da passiert etwas, das kennt keiner. Wir kennen das Ausmaß nicht, wir kennen die Prognose nicht, wie lange das noch so weitergeht. Und wir stellen nur fest, wir haben keine Chance mehr, noch irgendetwas zu machen, in dieser Geschwindigkeit, in dieser Strömung. Eine Katastrophe nimmt ihren Lauf, ohne dass jemand weiß: Mit welcher Dimension müssen wir rechnen, kriegt das überhaupt noch irgendwer mit und gibt es irgendeine Hilfe?“
Am Krisenmanagement nach der Flut gab es viel Kritik. Noch immer ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz gegen Ex-Landrat Jürgen Pföhler (CDU) sowie Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Michael Zimmermann. Letzterer übt sein Amt ehrenamtlich aus. Ein möglicher Gerichtsprozess gegen ihn, glaubt Weigand, würde den kompletten Katastrophenschutz in Rheinland-Pfalz erschüttern.
Der Aufbau, so macht sie deutlich, könne nicht eins-zu-eins erfolgen. Auch der private Aufbau sei alles andere als einfach. Manche Betroffene seien noch nicht so weit wie gewünscht – das mache mürbe. „Es ist anstrengend und dann darf man auch motzen. Doch Planungen und Umsetzungen benötigen Zeit. Viele Menschen haben dafür Verständnis“, so Weigand.
Wirtschaftlich sei die Situation sehr mühselig. Die Betriebe gingen teilweise ein großes unternehmerisches Risiko ein. Dennoch habe mehr als drei Viertel der Gastronomie an der Ahr bereits wieder geöffnet. „Uns spiegelt man, dass das Angebot wieder gut angenommen wird. Wir hoffen sehr, dass der Andrang der Touristen bleibt.“
Die Region, gibt Weigand zu bedenken, verfüge über viele Stammgäste. Mehrheitlich kämpfe die Branche schon seit 15 Jahren für einen qualitativ hochwertigeren und auch aktiveren Tourismus. „Es geht in die richtige Richtung“, betont die Landrätin. Das Ahrtal zeichne sich durch spektakuläre Felswände, Weinberge und lauschige Wälder aus. Dazu kämen die Großstädte Bonn und Köln „vor der Haustür“, mit Nachtleben, Hochkultur, Rock und Pop. Weigand ist sicher: „Das funktioniert als Kleinod über Qualität.“
Nichtsdestotrotz sind die Spuren der Katastrophe allgegenwärtig. Einige Gaststätten stehen noch leer, manche kommen nicht wieder. Bei Wohnhäusern ist die Situation ähnlich. Wir kommen an den Überresten eines Hauses vorbei, in dem bei der Flut ein Mensch ums Leben gekommen ist. Ende 2021 war Weigand dort mit einem Fernsehteam unterwegs. Waschmaschine und Krücke des einstigen Bewohners standen damals noch an ihrem Platz. Hinter Sträuchern ist ein altes Gesteck zum Gedenken erkennbar. Unweit davon steht ein neues, vermutlich zum zweiten Jahrestag aufgestellt.
Das Flut-Gedenken ist ein sensibles Thema. Weigand sagt: „Der Gedenktag ist für viele Betroffene ein Tag, den sie ganz privat begehen möchten. Viele suchen Gesellschaft mit Menschen, die sie kennen und wo es wirklich persönlich wird.“ Zum ersten Jahrestag im Juli 2022 organisierte die Kreisverwaltung im Bad Neuenahrer Kurpark noch eine gemeinsame Gedenkveranstaltung für alle im Ahrtal betroffenen Städte und Gemeinden. In diesem Jahr gab es erneut eine Gedenkveranstaltung im Kurpark. Diesmal handelte es sich allerdings um ein von der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler organisiertes Gedenken – speziell für ihre Einwohner. Entsprechend nahmen auch keine Bürgermeister aus anderen Kreis-Kommunen teil. Denn diese begingen den Tag ebenfalls für sich.
Unabhängig davon: Viele Menschen im Kreis, weiß Weigand, wünschen sich eine zentrale Gedenkstätte für die Opfer der Flut. „Irgendwann wird es ein übergreifendes Gedenken geben müssen“, prognostiziert sie. Wie das aussieht und wo es sein wird, sei aber noch offen. Dafür seien viele noch zu sehr damit beschäftigt, aufzubauen.
Die Flut im Ahrtal hat nicht nur mindestens 135 Menschen das Leben gekostet. Zehntausende waren und sind von den Folgen betroffen. „Die unfassbare Dimension der Katastrophe“ ist für Weigand das, wofür es sich nun zu kämpfen lohnt. Dieser Kampf werde noch lange dauern. Irgendwann aber, so Weigand, löse sich der „gordische Knoten für ein Problem nach dem anderen“. Allerdings sei dafür Ausdauer notwendig.
Wir gehen wieder Richtung Bahnhof, wo Weigands Fahrer wartet. Der Regen ist vorbei.
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