Aus ELTERN Family 12/22. Der Winter ist da – und mit ihm auch die nächste Corona-Welle. Schon 2020, zu Beginn der Pandemie, warnten Soziologinnen: Es wird vor allem die Mütter treffen – und zu einem Rückschritt bei der Gleichstellung führen. Doch wie schlimm ist es wirklich gekommen, und wo stehen wir jetzt? Das weiß Feminismus- Expertin und Buchautorin Sabine Rennefanz
Am Anfang der Pandemie, vor knapp drei Jahren, hieß es, das Virus träfe uns alle gleich. Wann hatten Sie das Gefühl, das Gegenteil ist der Fall?
Schon Ende März, Anfang April 2020, als erst- mals diskutiert wurde, wann welche Läden wie- der aufmachen – und es gar nicht um Kitas und Schulen ging. Die Leopoldina gab bald die Emp- fehlung heraus, sie bis August geschlossen zu halten. Ich persönlich spürte da bereits deutlich die Überlastung durch das Homeoffice und die Kinderbetreuung. Aber es gab große Unterschiede: zwischen den Leuten ohne Kinder, die sich so gut konzentrieren konnten wie nie – und den Familien, die nicht wussten, wo ihnen der Kopf steht. Zwischen den Familien mit mehr Platz und Garten – und denen, die auf engstem Raum leben.
Im Mai 2020 warnte die Soziologin Jutta Allmendinger in der Talkshow "Anne Will“ vor einer Retraditionalisierung, einem Rückfall in althergebrachte Muster des Zusammenlebens also. Drei Jahrzehnte an Errungenschaften würden wir dadurch verlieren, sagte sie. Hatte sie recht?
Jutta Allmendinger würde das heute genauer differenzieren, erklärte sie in einem später geführten Interview. Denn ganz so schlimm wie vor 30 Jahren ist es schon strukturell nicht. Damals waren wesentlich weniger Mütter berufstätig, es gab viel weniger Kita- und Ganztags-Schulplätze. Dennoch: Da ist eindeutig eine Tendenz zur Retraditionalisierung.
Woran machen Sie das fest?
19 Prozent der Frauen mit betreuungsbedürftigen Kindern haben wegen der Pandemie ihre Arbeitszeit reduziert, bei den Männern sind es kaum mehr als fünf Prozent. Inzwischen übernehmen auch mehr als 70 Prozent der Frauen die überwiegende Kinderbetreuung. Wäh- rend des ersten Lockdowns waren es kurzfristig 53 Prozent, seit Juni 2020 steigen die Zahlen aber immer weiter und sind jetzt höher als jemals vor der Pandemie – da waren es maximal 62 Prozent. Gerade junge westdeutsche Männer stehen neuerdings auch der Berufstätigkeit der Frauen wieder skeptisch gegenüber. Elterngeld oder Vätermonate fanden sie zwar fortschrittlich, aber durch die Pandemie wurde ihnen das zu stressig.
Warum waren Frauen und auch Kinder
während der Corona-Pandemie die Haupt-Leidtragenden – und werden es vielleicht auch in kommenden Krisen sein?
In patriarchalischen Verhältnissen wird die Arbeit von Frauen nicht wertgeschätzt. Pflege und Er- ziehung und viele andere Bereiche, in denen sie überwiegend arbeiten, machen sie – romantisiert gesehen – aus Liebe oder Spaß. Das sind Jobs, die total unterbezahlt sind. Auch deshalb ging der Löwenanteil des rund 600 Milliarden Euro schweren Corona-Rettungsschirms in die Bereiche, in denen Männer arbeiten. Frauen wurden beklatscht, Männer bekamen das Geld.
Ist das in solchen Zeiten ein Automatismus?
Es ist zumindest nicht das erste Mal, dass Frauen
und Kinder das Nachsehen haben. Unter den
wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung
etwa litten vor allem Frauen in der DDR: Mehr als
90 Prozent von ihnen arbeiteten vor 1989 Vollzeit.
Sie verloren nach der Wende überproportional oft ihre Jobs, außerdem wurden Horte und Kitas geschlossen, Betreuungszeiten verkürzt, Frauen aus
dem Arbeitsmarkt herausgedrängt. Auch der Ukraine-Krieg trifft Frauen und Kinder hart: Viele
müssen ihr Land verlassen und in einem neuen
Land das Überleben der Familie sichern.
Wenn Mütter in den letzten Jahren zurücksteckten – liegt das daran, dass ihre Verhandlungspositionen oft schlechter sind?
Ja, genau. Sie arbeiten öfter in Teilzeit und weniger in Spitzenpositionen. Auch Steuer- und
Sozialgesetzgebung benachteiligt Mütter. Und
wenn dann die Kita zu ist, bleibt ziemlich selbst-
verständlich meist die Frau zu Hause – weil sie
weniger arbeitet und verdient. Das sind harte,
starke Fakten, gegen die man kaum ankommt.
In den letzten Jahren haben viele Mütter
am Anschlag gearbeitet ...
Weil sie sich noch mehr als sonst zwischen Beruf, Orga und Care-Arbeit zerrissen haben. Sie sind viel belasteter als Männer, sagen wesentlich häu- figer, dass sie erschöpft sind, haben das Vertrauen in die Politik verloren. Dazu sind Mütter jetzt bei neuen Projekten oder Beförderungen vorsichtiger als vor der Pandemie. Das bremst sie aus. Die ehemalige Gruner+Jahr-Vorstandsvorsitzende Julia Jäkel etwa hat erzählt, dass sie zu Beginn der Pandemie plötzlich die einzige Frau in Telefonmeetings war, was sie aus der Zeit vor Corona nicht kannte. Dadurch fehlte bei vielen Entscheidungen und Fragestellungen die weibliche Perspektive und Erfahrung. Und deshalb spielte die Erschöpfung von Müttern durch Homeoffice und -schooling lange kaum eine Rolle im Diskurs.
Viele Frauen haben ihr Leben ja während
der Pandemie über den Haufen geworfen.
Ja, so eine Situation bringt Menschen dazu, ganz
viele Dinge infrage zu stellen, weil wir auf uns
zurückgeworfen werden. Alles, was uns bis dahin
von unangenehmen Dingen abgelenkt hat, kam an
die Oberfläche, und die Menschen fragten sich:
Was ist mir eigentlich wichtig? Es mag etwas pathetisch klingen, aber diese Nähe von Krankheit
und Tod macht was mit uns, wir werden uns der
Endlichkeit des Lebens bewusst, wir hinterfragen
die eigenen Werte, die Art des Arbeitens und wie
wir das Leben organisieren. Auch hier sind es vor
allem Frauen, die Veränderungen anstoßen – und
aufs Land ziehen oder in Teilzeit arbeiten möchten. Männer sagen so was eher selten.
Und wie ging es den Kindern in den letzten
zwei Jahren?
Ähnlich wie den Müttern. Denn so, wie das Weib-
liche durch die patriarchalen Strukturen gering-
geschätzt wird, überträgt sich dieser Blick auch
auf die Kinder. Es sind ja die Frauen, die sie bekommen. Ich war während der Pandemie immer
wieder erschüttert, wie wenig Kinder in den Ent-
scheidungsprozessen vorkamen. Der ehemalige
Außenminister Heiko Maas etwa sagte noch
lange, bevor es Impfstoffe für Kinder gab, sinngemäß: Wenn sich alle Menschen impfen lassen
können, ist die Pandemie vorbei. Offenbar verstand er darunter alle – außer Kinder. Sie wurden
aus der Debatte herausdiskutiert, nicht berücksichtig oder schlicht vergessen ...
... und die Schulen und Kitas lange einfach
geschlossen gehalten.
Ja, gerade die Schulschließungen im zweiten Win-
ter waren problematisch. Der zweite Lockdown
war bei uns wesentlich länger als der erste. Das
war aber nicht alternativlos, in Ländern wie
Frankreich oder Spanien blieben Schulen und
Kitas weitgehend geöffnet. Warum in Deutschland so entschieden wurde, ist bis heute nicht aufgearbeitet. Es gibt offenbar kein Interesse daran,
etwas aus dieser Krise zu lernen. Im vergangenen
Bundestags-Wahlkampf etwa spielten Kinder
kaum eine Rolle. Dabei gibt es 14 Millionen unter
16-Jährige. Doch sie haben kein Wahlrecht und
werden leichter übersehen.
Welche Altersgruppen haben bei den
Kindern am meisten gelitten?
Alle. Aber langfristig besonders betroffen sind
wohl die Jugendlichen zwischen 14 und 20, die zwei, drei Jahre kaum persönliche Erfahrung mit
Gleichaltrigen hatten, sich treffen, feiern konnten
– in einem Alter, in dem das wichtig und sehr prä-
gend ist, meist fürs ganze Erwachsenenleben. Gerade in dieser Altersgruppe haben die psychischen
Belastungen und Depressionen zugenommen.
Lehrer berichten auch, dass es viel mehr Schulverweigerer gibt. Die jüngeren Kinder haben Ent-
wicklungsverzögerungen, können sich nicht so gut
konzentrieren. Das führt dazu, dass Psychotherapieplätze für Kinder total ausgebucht sind.
Wie kann verhindert werden, dass Kinder
und Frauen bei der nächsten Krise wieder
zuletzt bedacht werden?
Kinderrechte gehören viel stärker als bisher in den feministischen Diskurs. Denn die Rechte von Frauen und Kindern gehören zusammen und müssen zusammen erstritten werden. Der Kampf für mehr Gleichberechtigung von Frauen bedeutet damit auch, für mehr Kinderrechte zu kämpfen.
Das wird aber vermutlich noch ein langer, steiniger Weg. Es ist ziemlich frustrierend, was in den vergangenen zwei Jahren mit Familien passiert ist. Und wir haben längst neue schwierige Situationen. Was können wir gegen dieses miese Gefühl tun?
Ich selbst habe versucht, nicht so bitter zu werden, und stattdessen meine eigene Rolle hinterfragt. Denn einer Veränderung in der Politik und ein gesellschaftlicher Wandel – das wird noch Jahrzehnte dauern. Statt zu sagen, das System ist schuld und man kann eh nichts machen, ist man vielleicht auch selbst gefordert. Ich habe mich zum Beispiel vergangenes Jahr selbstständig gemacht. Das tun zu können ist ein Privileg, aber vielleicht gibt es andere Möglichkeiten, sein Leben umzugestalten, es anders zu organisieren, um sich mehr um das kümmern zu können, was einem persönlich wichtig ist. In einer solchen Krise lässt sich ganz gut erkennen, ob man für eine neue Balance etwas ändern kann.
Was haben wir Eltern noch in der Hand?
Mütter und Väter können sich zusammensetzen und sich erzählen, wie die Pandemie für sie war, was sie gelernt haben, was sie ändern möchten. Ich zum Beispiel habe meine Festanstellung gekündigt, um meine Zeit freier einteilen zu können. Meine vorherige Führungsaufgabe in einem eher traditionellen Unternehmen passte nicht mehr. Viele Frauen in meinem Umfeld wollen weniger erwerbsarbeiten. Ich treffe auf meinen Lesungen aber auch Frauen, die sagen, sie haben ihre Stunden aufgestockt. Ich empfehle übrigens auch allen, die erschöpft sind, über eine Kur nachzudenken – am besten ohne Kinder.
SABINE RENNEFANZ
Die Mutter zweier Kinder lebt in Berlin und hat sich als Journalistin auf die Themen Feminismus, Familien- und Gesellschaftspolitik spezialisiert. Sie wurde dafür schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr aktuellstes Buch "Frauen und Kinder zuletzt“ ist 2022 im Verlag Ch. Links erschienen (18 Euro).