Susanne Güsten

Korrespondentin, Istanbul, Türkei

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Artikel

Blick zurück in den Abgrund

Im Massengrab

Krachend zerbersten menschliche Gebeine unter den Stiefeln der Arbeiter auf einer Baustelle am südlichen Stadtrand von Siverek in Südostanatolien; knirschend zersplittern unter ihren Tritten die Gewölbe der Schädel. Er könne ja auch nichts dafür, sagt ein junger Bau-Schreiner, der die Bretterverschalung von den frischen Fundamenten für zwei Wohnblocks klopft: So dicht liegen hier die aufgewühlten menschlichen Überreste verstreut, dass sich kaum ein Schritt tun lässt, ohne darauf zu treten. Selbst zwei ältere Herren, die neben der Baustelle in den Knochen herumstochern, können das bei aller Vorsicht nicht ganz vermeiden. Sie heißen Aziz Taskaya und Cemal Babaoglu, und sie suchen nach den sterblichen Überresten ihrer Brüder. Denn gebaut wird hier in einem Massengrab.

 

Überall in Südostanatolien, dem kurdisch besiedelten Teil der Türkei, brechen derzeit die Verbrechen der Vergangenheit aus der Tiefe hervor – aus verlassenen Minen, aus alten Brunnenschächten und aus der Erde selbst. Manchmal geschieht es aus Zufall, wie hier in Siverek, wo das Massengrab bei der Ausschachtung für einen Neubau entdeckt wurde; immer öfter auch durch gezielte Grabungen, wenn Staatsanwälte nach Jahren der Untätigkeit endlich ermitteln und Zeugen nach Jahren der Angst den Mut zur Aussage fassen. Was nach Jahrzehnten der Dunkelheit nun ans Tageslicht kommt, das sind die staatlichen Verschleppungen, Folterungen und Morde im türkischen Kurdengebiet der 90er Jahre.

 

Zwei von tausenden Opfern dieses schmutzigen Krieges des türkischen Staates waren Hüseyin Taskaya und Nazim Babaoglu, die vermissten Brüder der beiden Herren am Massengrab. Hüseyin Taskaya, ein damals 44jähriger kurdischer Unternehmer, wurde am 7. Dezember 1993 von einem Trupp staatstreuer kurdischer Milizionäre unter Befehl eines Armeeoffiziers aus seinem Haus in Siverek geholt und seither nie wieder gesehen. Nazim Babaoglu, ein 19jähriger Student und Reporter einer kurdischen Zeitung, wurde am 12. März 1994 mit einem fingierten Anruf zu einem Treffen in Siverek bestellt, am selben Tag noch einmal in der Gewalt von Milizionären gesehen - und dann nie wieder.

 

„Ich suche meinen Bruder seit 20 Jahren“, sagt Aziz Taskaya, der heute selbst schon 46 Jahre alt ist und einen buschigen Schnurrbart trägt wie damals Hüseyin. „Ich habe alle Gerichte angerufen, alle Staatsanwälte und Behörden, habe alles versucht – aber wir haben bis heute keinen Knochen von ihm gefunden, nichts.“ In einer hellen Windjacke kauert Taskaya auf der Erde und schiebt Scherben von Schädelknochen zusammen wie ein Puzzle. Alleine und ohne Amtshilfe wird er seinen Bruder auch hier nicht finden können. Die aufgewühlten Gebeine sind heillos durcheinander geworfen, etliche Skelette liegen offenbar noch unter der Erde - in den Wänden der Baugrube sind ihre Konturen einen halben Meter unter der Oberfläche zu erkennen.

 

Gut möglich, dass die sterblichen Überreste ihrer Brüder hier liegen, glauben die beiden Männer: Das Gelände war in den 90er Jahren ein bewaldetes Sperrgebiet, das von Armee und Milizen kontrolliert wurde und als Folterzentrum von JITEM bekannt war - jener berüchtigten Armeegeheimdienstgruppe, die unter dem Etikett der Terrorbekämpfung im Kurdengebiet mit dem „Verschwindenlassen“ von Dissidenten beauftragt war. „Hier stand damals nur ein Flachbau, ein umfunktionierter Stall, in dem wurde gefoltert und gemordet“, erzählt Babaoglu. „Wer hier hinein gebracht wurde, der kam nie wieder - das wusste jeder.“ Noch heute hätten sie Angst, hier herumzulaufen, sagen beide Männer.

 

Cemal Babaoglu hat sich die Suche nach seinem kleinen Bruder und den vielen anderen Vermissten zur Lebensaufgabe gemacht. Der 53jährige arbeitet hauptamtlich für den türkischen Menschenrechtsverein IHD in der Provinzhauptstadt Urfa, wo alleine noch 300 Menschen aus jenen Jahren vermisst werden. Insgesamt beziffert der IHD die Zahl der unaufgeklärten politischen Morde der 90er Jahre in Südostanatolien auf 3500 Fälle; die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt des Kurdengebietes, spricht sogar von 9500 ungelösten Verbrechen. Mit einer interaktiven Landkarte verfolgt der IHD im Internet die Ermittlung, Entdeckung und Öffnung von Massengräbern in der Region; per Mausklick können Informanten - auch anonym – sachdienliche Hinweise geben.

 

Solchen Hinweisen und Zeugenaussagen ist es zu verdanken, dass allmählich das Schweigen gebrochen wird und die Täter nach zwei Jahrzehnten erstmals vor Gericht gebracht werden – keinen Tag zu früh, denn die Verjährungsfrist für Mord beträgt in der Türkei nur 20 Jahre. Nur zwei Tage vor Verjährung klagte zum Beispiel die Staatsanwaltschaft in Silopi im Sommer einen Brigadegeneral an, der im Juni 1993 sechs Zivilisten aus einem kurdischen Dorf erschießen ließ. Die Anklage stützt sich auf die Augenzeugenberichte von damaligen Soldaten. „Bringt diese Ehrlosen um“, befahl der General demnach; die Leichen ließ er an einen Geländewagen binden und herumschleifen, bevor sie in einen Brunnenschacht geworfen wurden. Der Prozess soll am 5. November beginnen.

 

Auf Augenzeugen stützt sich auch ein Prozess, der derzeit in Eskisehir verhandelt wird. „Ich bin doch nur ein Hirte, ich habe Kinder, ich habe mit der PKK nichts zu tun“, flehte der Schafhirte Nezir Tekci laut Anklage die Offiziere an, die ihn im April 1995 auf seiner Bergweide bei Yüksekova festnehmen ließen und verlangten, er solle sie zu den Verstecken der Rebellen führen. Vier oder fünf Tage zerrte die Einheit ihn durch die Berge, bis die Offiziere einsahen, dass er nichts wusste – dann töteten sie ihn mit Kopfschuss und sprengten die Leiche. „Wer von euch Gott liebt, wer ein Gewissen hat, der möge bitte aussagen“, beschwor der Vater des Hirten, Halit Tekci, die früheren Soldaten der Einheit zu Prozessbeginn. Nur durch seine Bemühungen war es überhaupt zu dem Verfahren gekommen: Weil die Staatsanwaltschaft seine Anzeigen nicht verfolgte, ermittelte der alte Bergbauer selbst so lange, bis er aussagewillige Augenzeugen ausfindig machte.

 

Oft sind es nur die unermüdlichen Bemühungen der Angehörigen, die zur Aufklärung dieser Verbrechen führen. Die Familie Demir in Kiziltepe hatte schon mehrfach die Öffnung eines anonymen Grabes beantragt, in dem sie ihren seit Mai 1995 vermissten Sohn Menduh vermutete. Immer wieder lehnten die Behörden ab, doch als sie im vergangenen Monat endlich nachgaben, bestätigten DNA-Tests die Recherchen der Angehörigen. Dem Augenzeugenbericht eines Milizionärs zufolge hatten Soldaten den 17jährigen Hirtenjungen versehentlich festgenommen, als sie nach einem Gefecht verletzte PKK-Kämpfer einsammelten; um ihn loszuwerden, ließ der Kommandant ihn aus dem Hubschrauber werfen. Erst 18 Jahren später konnte die Familie nun mit einer Beerdigung von ihm Abschied nehmen.

 

Am Massengrab in Siverek schüttelt Cemal Babaoglu verzweifelt den Kopf: Auch hier fühlen sich die Hinterbliebenen von den Behörden im Stich gelassen. Als die Gebeine vor acht Wochen entdeckt wurden, hat die Staatsanwaltschaft einen Baustopp angeordnet und Gebeinsproben zur Gerichtsmedizin nach Istanbul geschickt. Nichts werde hier angerührt, bis der Fall aufgeklärt sei, versprach der Staatsanwalt dem IHD-Vertreter. 35 Familien haben sich gemeldet, weil sie ihre vermissten Angehörigen hier vermuten und DNA-Proben abgeben wollen, um sie mit den Gebeinen abzugleichen.

 

Doch nun sind die gelben Bänder der Tatortabsperrung weggerissen und liegen verknäult am Baustellenrand; aus den Gruben sind meterhohe Betonfundamente gewachsen; dazwischen fliegen überall menschliche Gebeine herum: zerbrochene Arm- und Beinknochen, zersplitterte Schädel, Kiefer und hunderte kleinere Knochen. Undenkbar, dass hieraus wieder die intakten Skelette zusammengefügt werden könnten, die Babaoglu bei seinem letzten Besuch noch vorgefunden hatte. Unvorstellbar, dass selbst mit DNA-Tests hieraus noch die Überreste jedes einzelnen Menschen zusammengefügt werden könnten, der von seinen Angehörigen vermisst und betrauert wird.

 

„Mein Vater soll zumindest ein Grab haben“, sagt der junge Bauer Mehmet Karakaya, wendet das Gesicht ab und schluchzt. Sechs Jahre alt war er, als Milizionäre seinen Vater Sefik Gecgel am 11. November 1993 holten, und noch heute steigen ihm die Tränen in die Augen, wenn er davon spricht. Seine Mutter hat ihn und seine acht Geschwister alleine großgezogen; heute bewirtschaftet Mehmet die väterlichen Felder selbst, hat selber Kinder – und sucht seinen Vater noch immer. Karakaya sitzt im Büro eines Rechtsanwaltes in Siverek und lässt einen Antrag auf Einsicht in die Akten der Staatsanwaltschaft aufsetzen: Die Angehörigen wollen wissen, was die gerichtsmedizinische Untersuchung der Knochen aus dem Massengrab am Stadtrand ergeben hat.

 

Viel Anlass zu Vertrauen in die Arbeit der Justizbehörde haben sie freilich nicht. Nur einmal in diesen zwei Jahrzehnten hat die Staatsanwaltschaft überhaupt Karakayas Aussage zu Protokoll genommen, und auch das erst vor zwei Jahren. Nicht einmal ein Ermittlungsverfahren hat der 54jährige Verwaltungsbeamte Mustafa Kalpar für seinen Bruder Ahmet erwirken können, der am 7. Dezember 1993 abgeholt wurde – am selben Tag wie Hüseyin Taskaya. „Ich kenne Tatzeit und Tatort, ich kann die Täter namentlich nennnen“, sagt Kalpar. „Ich habe mich an Polizei und Staatsanwaltschaft gewandt, an das Parlament und das Innenministerium, doch ich bekomme seit 20 Jahren keine Antwort.“

 

Das Tabu, mit dem die Verbrechen der 90er Jahre bis zur Jahrtausendwende belegt waren, ist zwar gebrochen. Schon vor acht Jahren ordnete das Justizministerium, die ungelösten Morde energisch aufzuklären und zu verfolgen. Und tatsächlich sind auch einige Prozesse eröffnet worden. So muss sich seit 2009 der Oberst Cemal Temizöz vor Gericht für das „Verschwindenlassen“ von 22 kurdischen Zivilisten in Cizre zwischen 1993 und 1995 verantworten; einen Tag vor Ablauf der Verjährung nahm ein Gericht in Diyarbakir vor einigen Tagen die Anklage gegen einen Brigadegeneral an, der im Oktober 1993 elf kurdische Zivilisten in Kulp ermordet haben soll. Anklagen sind auch gegen den damaligen Innenminister Mehmet Agar und gegen die mutmaßlichen Mörder des kurdischen Journalisten Musa Anter erhoben worden.

 

Doch das ist ein schwacher Trost für tausende Familien, deren Angehörige noch immer vermisst werden. Ein einziger Staatsanwalt in Diyarbakir war bis vor kurzem für alle 9500 Fälle zuständig, die dort anhängig sind, darunter auch für die Vermissten von Siverek. Alle anderen Ankläger waren in den letzten Jahren damit beschäftigt, Sammelprozesse gegen hunderte kurdische Lokalpolitiker zu führen, die in den Verhaftungswellen der letzten Jahre festgenommen wurden. Zu ihnen zählte auch Faik Taskaya, ein weiterer Bruder von Hüseyin und Aziz Taskaya, der im Juni nach zweijähriger Untersuchungshaft freigesprochen wurde. Erst seit Beginn der Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK im letzten Jahr ist die Justiz im Südosten etwas entlastet. Die 9500 Fälle wurden nun auf zehn Staatsanwälte verteilt, die den Wettlauf mit der Verjährungsfrist aufnehmen sollen.

 

Im Gerichtsgebäude von Siverek hat Cemal Babaoglu dennoch Schwierigkeiten, einen Ansprechpartner zu finden für seine Sorge um den Zustand des Massengrabs vor der Stadt. Der noch vor sechs Wochen zuständige Staatsanwaltschaft ist zu seiner Ehefrau in eine andere Stadt versetzt worden, der nächste hat den Fall auch schon abgegeben, und der jetzt zuständige Staatsanwalt hat heute frei. Babaoglu landet schließlich beim Oberstaatsanwalt, der verwirrt reagiert: Der Bau sei doch gestoppt, die Fundstelle abgesperrt worden? Offenbar hat sich seit Wochen niemand die Mühe gemacht, die vier Kilometer zum Massengrab hinauszufahren und nach dem Rechten zu sehen. Der Staatsanwaltschaft greift schließlich zum Telefon und weist die Polizei an, den Bau wieder zu stoppen und das Grab künftig besser zu schützen.   

 

Es fehle der Türkei noch immer am politischen Willen zur rückhaltlosen Aufklärung, glauben Cemal Babaoglu und Aziz Taskaya. Im Westen des Landes, weitab vom Kurdengebiet, wollen die Menschen nichts wissen und nichts glauben davon, was hier geschehen ist, sagt Taskasya. Seine Familie lebt seit der Ermordung des Bruders in Istanbul und steht seit 1994 jeden Samstag bei der Mahnwache der sogenannten Samstagsmütter mit einem Bild von Hüseyin in der Fußgängerzone. „Die Leute glauben uns nicht“, sagt Taskaya. „Sie sagen: ‚Der Staat bringt doch nicht seine eigenen Bürger um.‘“

 

In der Politik vermisst Babaoglu den klaren Trennungsstrich, den offenen Bruch mit der Vergangenheit. So sitzt der frühere Gouverneur von Urfa, der in die Ereignisse von Siverek verstrickt sein soll, heute für die Regierungspartei AKP im Parlament; auch andere Politiker jener Jahre der Finsternis unter Ministerpräsidentin Tansu Ciller haben sich hinüber retten können in die AKP-Regierung. Und selbst im kurdischen Siverek, dessen führende Clans dem türkischen Staat im Krieg gegen die PKK als Schergen dienten, fürchtet mancher die Aufarbeitung der Vergangenheit. „Es ist nicht gut, diese Gräber zu öffnen“, sagt ein Lokaljournalist. „Man sollte besser Gras darüber wachsen lassen.“

 

Das zu verhindern, sind die Angehörigen entschlossen – und sie setzen dabei auf die Solidarität. In einem Massengrab bei Dargecit am Tigris wurden kürzlich die Gebeine des 13jährigen Seyhan Dogan gefunden, der am 29. Oktober 1995 von Soldaten verschleppt worden und seither verschwunden geblieben war. Seine Eltern hatten zeitlebens nach ihm gesucht und sich dabei den Samstagsmüttern angeschlossen, standen bis zu ihrem Tod jeden Samstag mit seinem Bild in der Fußgängerzone von Istanbul. „Wenn Seyhan jemals gefunden wird, dann begrabt uns zusammen“, lautete die letzte Bitte des 2000 und 2010 verstorbenen Ehepaares an seine Mitstreiter. „Wenn wir uns schon in dieser Welt nicht wiederfinden, dann wollen wir im Grab zusammen sein.“

 

Im vergangenen Monat konnten IHD und Samstagsmütter ihr Wort halten: Die sterblichen Überreste der Eltern wurden in Istanbul exhumiert und zusammen mit den Gebeinen des Kindes unter Anteilnahme der ganzen Kleinstadt in Dargecit beigesetzt. „Bei allem Schmerz freuen wir uns heute doch, ihm endlich ein Grab geben zu können“, sagte Seyhans Onkel bei der Beerdigung. „Wir wünschen uns, dass alle Familien der Verschwundenen das noch erleben können.“

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