Landsberg - Was können wir dem Pflegenotstand entgegensetzen? Ein Puzzleteil der Lösung ist die „sorgende Gemeinschaft": Menschen, die sich gegenseitig unterstützen, zum Beispiel innerhalb von Nachbarschaftshilfen. Wie die funktionieren - und was sie zum Ganzen beitragen können.
Gabriele Müller und ich steigen in ihren kleinen, weißen Pkw und fahren los. Schon nach zwei Minuten halten wir vor einem mehrstöckigen Haus. Müller steigt aus und begrüßt ihren Fahrgast: eine 85-Jährige - die zwar mit dem Gehstock gut zurecht kommt. Aber um sich in den tiefen Autositz plumpsen zu lassen, stützt sie sich gerne auf den Arm, den Müller ihr anbietet. Auch die Autotür will Müller hinter ihr schließen - aber das lässt sich die Seniorin nicht nehmen: Resolut greift sie zu ihrem Gehstock, hakt ihn in den Türgriff und zieht die Tür mit Schmackes zu. Das Geh-Hilfsmittel wird zur Armverlängerung.
Gabriele Müller hat die 85-Jährige schon einmal zur Physio-Therapie gefahren. Und wird es auch in den kommenden Wochen tun: Die 64-jährige ‚Neu-Rentnerin' mit leuchtend roter Brille und kurzen, grauen Haaren - seit August genießt sie den Ruhestand - ist Mitglied bei der Nachbarschaftshilfe Landsberg. Als eine von aktuell 25 aktiven Helferinnen und Helfern bietet sie an, Menschen aus der Umgebung unter die Arme zu greifen. „Die meisten Anfragen sind Fahrdienste", bestätigt Paul Geißler, einer der aktuell vier Koordinatoren der Nachbarschaftshilfe. Er und seine Kollegen sorgen dafür, dass neue Mitglieder einen Mitarbeiterbogen erhalten, auf dem sie angeben, wo sie wie und wie oft helfen können - beispielsweise auch im Haushalt oder beim Einkaufen. „Nicht leisten können wir Pflegedienste. Oder den Transport von Bettlägerigen." Geholfen wird in Einzelfällen, nicht einer ganzen Organisation. Und die Anfrage sollte immer von demjenigen kommen, der die Hilfe auch wahrnimmt.
Die Koordinatoren bringen Anfragen und Helfer zusammen - mit möglichst kurzem Anfahrtsweg. Und sie entscheiden Grundsätzliches: Was ist möglich, wo muss man ablehnen? „Wir können nicht bei der Wohnungssuche helfen. Und auch nicht die Leute zum Einkaufen nach München fahren", grenzt Koordinatorin Traudl Melloh ein. Denn Mitglieder und Koordinatoren arbeiten ehrenamtlich. „Die meisten von uns sind Rentner, nur fünf sind berufstätig." Aber auch einige Jüngere sind dabei - ‚Nachwuchs', falls die älteren ausfallen sollten. Versichert sind die Mitglieder über die Caritas Landsberg, für gefahrene Kilometer zahlen die Fahrgäste Benzingeld. „Wir suchen händeringend neue Mitglieder", wirbt Melloh. Denn die Anfragen steigen: Allein bis Ende Oktober waren es gegenüber 2022 ein Viertel mehr insgesamt - knapp 400 Einsatzstunden, gut 1.400 Kilometer.
Schon nach zwei Minuten ist die Fahrt zu Ende, die Physio-Praxis erreicht. Aber auch, wenn es nur 500 Meter sind: Der Weg wäre für die 85-Jährige zu weit zum Laufen. Vor allem, wenn wie an diesem Tag die Straßen voller Schneematsch sind. Müller hilft der Seniorin über die Treppen in die Praxis. „Ich bin schon seit Jahren bei der Nachbarschaftshilfe", sagt die 85-Jährige, die von dem Angebot in ihrer Reha nach einer Knieoperation erfahren hat. Ab und zu nehme sie auch ein Taxi, „aber das ist auf Dauer mordsteuer, das kann ich mir nicht leisten". Ihre beiden Kinder leben in München - zu lang der Weg für die kurze Physio-Fahrt, sagt sie.
Während der Behandlung ihres Fahrgastes wartet Müller in der Praxis: „Für die halbe Stunde zurückfahren lohnt sich nicht." Wodurch ihr Einsatz eine Dreiviertelstunde dauert. „Ich wollte im Ruhestand einfach was machen - um dem Lotterleben vorzubeugen", sagt die 64-Jährige und lacht. „Ich rede gern. Und auch viel!" Als ehemalige Krankenschwester weiß sie, wie man Menschen, die nicht mehr so bewegungsfähig sind, optimal hilft. „Und ich bekomme von den Leuten, die ich bei der Nachbarschaftshilfe unterstütze, so unglaublich viel zurück. Das war früher in der Klinik nicht immer so." Müller setzt sich auch bei der AWO ein, als „Gesellschafterin für eine Dame". Auch sie wolle ja so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben - was Angebote wie die Nachbarschaftshilfe möglich machten.
Das weiß auch der examinierte Altenpfleger und ehemalige Lehrer einer Altenpflege-Berufsfachschule, Pajam Rais-Parsi, aktuell leitend in der Koordinationsstelle Seniorenpolitisches Gesamtkonzept am Landratsamt Landsberg. „Es ist großartig zu sehen, wenn Menschen wie die Mitglieder der Nachbarschaftshilfe bereit sind zu helfen." Solche Konstrukte nennt er „sorgende Gemeinschaften". Und die seien laut Ergebnis des siebten Altenberichts der Bundesregierung „als Teil eines Hilfe-Mixes essenziell für die Lösung des Pflegeproblems". Denn wenn man jemanden, der Hilfe benötige, kenne, sei der Wille zum Helfen auch größer. „Und wenn ich was für andere tue, tut der oder ein anderer ja vielleicht auch mal was für mich."
Gewisse Aufgaben, zum Beispiel Hilfe bei der Körperpflege, könnten auch Laien übernehmen - wenn sie dazu qualifiziert werden. So wie beim Pilotprojekt QuartierPflege in Erpfting, das im April 2024 starten soll, inklusive eines Schulungskonzeptes für Laien, die dann Pflegeleistungen übernehmen können - und zwar gegen Bezahlung. Das reiche vom Minijob bis zur Vollzeitstelle, sagt Rais-Parsi. Diese Hilfe entlaste zudem die professionelle Pflege, die dann wieder mehr Zeit für ihre Kernaufgaben hätten. Denn die Notlage in der Pflege werde sich noch zuspitzen, ist der Altenpfleger überzeugt. „Uns fehlen Menschen", Stichwort ‚Babyboomer', die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1969. Wenn die in Rente gehen, fallen zahlreiche Arbeitskräfte weg. „Und wenn diese Generation pflegebedürftig wird, potenziert sich der Notstand nochmals." Deshalb, und das sieht Rais-Parsi als Chance, könne und müsse man jetzt Konzepte für diese Zeit erarbeiten. „Aber wir dürfen wirklich nicht länger warten!"
Natürlich könnten Konzepte wie die Nachbarschaftshilfe das Problem nicht allein lösen: „Die Rahmenbedingungen für die professionelle Pflege müssen geändert werden", so Rais-Parsi. Attraktivere Ausbildung, bessere Bezahlung, Überarbeitung der Pflegeversicherung, Abbau der Bürokratiehürden für ausländische Pflegekräfte - wobei „wir unsere Probleme nicht auf Kosten anderer Länder lösen dürfen. Das wäre moralisch mehr als verwerflich." Rais-Parsi setzt auch auf die Künstliche Intelligenz. Nicht nur, dass KI in der Pflege helfen kann: „Auch, dass Menschen, die ihre bisherigen Jobs nicht mehr ausüben können, vielleicht in die Pflege kommen."
„Die Bedingungen für die ambulante Pflege müssen sich ändern", sagt auch die ehemalige Krankenschwester Gabriele Müller. „Zehn Minuten pro Person ist zu wenig." Viele Menschen, auch in den Heimen, bräuchten ja keine Rundumpflege. Mehr Gelder für die ambulante Pflege würden auch die Heime entlasten. Aber auch der immer rauere Umgang in der Gesellschaft, das Ellenbogendenken müsse sich ändern - „mehr Miteinander ist nötig".
Die Physiotherapie ist zu Ende. Müller begleitet ihren Fahrgast zurück zum Auto, fährt dreimal um die Ecke, vereinbart noch einen Termin zum Einkaufen und hilft der Seniorin beim Aussteigen. „Ich bin Ihnen so dankbar!", sagt die 85-Jährige. Genau die Dankbarkeit, die Müller in der Klinik immer vermisst hat. Reicht das aus? Absolut, sagt die 64-Jährige. „Ich hoffe aber auch, dass die mich alle in ihr Nachtgebet einschließen", sagt sie und lächelt. „Vielleicht kann ich's ja mal brauchen."
Info: Die Nachbarschaftshilfe Landsberg ist über die Telefonnummer 0160/1720193 zu erreichen - sowohl für Hilfesuchende als auch für potenzielle neue Helfer. Seit dem 18. Dezember sind die Mitglieder in ihrer verdienten Weihnachtspause, ab dem 2. Januar 2024 aber wieder erreichbar.