Susanne Greiner

Journalistin, Landsberg am Lech

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Anonyme Alkoholiker: Seit 30 Jahren auch in Kaufering

Kaufering - Weltweit gibt es aktuell rund 123.000 Gruppen der Anonymen Alkoholiker, schätzt die AA-Zentrale in New York: rund zwei Millionen Mitglieder in über 180 Ländern. Eine dieser Gruppen gibt es in Kaufering. Und das schon seit 30 Jahren.


Am Eingang hängt das schlichte Holzschild mit dem blauen Kreis, darin ein Dreieck mit dem „AA" in der Mitte. Weitere Schilder leiten den, der hier Hilfe sucht, zur Gruppe der Anonymen Alkoholiker. Eine Anmeldung ist nicht nötig: Wer dazukommen möchte, kommt. Egal wo. Die weltweiten Treffen der AAs richten sich alle nach einer festen Vorgehensweise aus.

Denn das, was die Menschen hier suchen, ist Struktur. Auch die Mitglieder der Kauferinger AA-Gruppe, die sich jeden Mittwoch um 19.30 Uhr in der Pauluskirche trifft, richten sich nach dem Schema der Meetings: das Verlesen der Präambel; der Gedanke zum Tag. Danach kommen einzelne Teilnehmer zu Wort, erzählen, was sie betrifft. Aktuelles oder Vergangenes, Probleme oder Geschichten. „Wir haben in der Mitte einen imaginären Korb, in den kommt das alles rein", erklärt einer der Teilnehmer. „Jeder kann sich daraus mitnehmen, was er möchte. Am Ende ist der Korb dann leer." Am Ende, wenn dann auch der Gelassenheitsspruch kommt, die inzwischen jeder aus irgendeinem Film kennt. Eine wichtige Regel ist das Eingeständnis der Krankheit. Und zwar im ersten Satz jeder Wortmeldung, wenn der Redner seinen Vornamen sagt und den Zusatz: „Ich bin Alkoholiker."

Seit zwei Jahren sind die Kauferinger AA in der Pauluskirche. Vorher trafen sie sich im Seniorenstift. Und davor in der Brudergasse in Landsberg. Als dort aber der Wunsch aufkam, eine ‚nikotinfreie' Gruppe zu haben, wanderten die Nichtraucher nach Kaufering ab - vor genau 30 Jahren.

Zu den sogenannten offenen AA-Treffen dürfen auch Angehörige und Bekannte mitkommen, zu geschlossenen nur Alkoholabhängige. Die einzige Voraussetzung für alkoholkranke Teilnehmer: der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Kein Vereinsbeitritt, keine Versprechen, kein Zwang. „Wenn wir das Wort ‚muss' hören, läuft es uns kalt über den Rücken", sagt einer der Teilnehmer und lacht. Die Treffen laufen anonym: Es gibt nur Vornamen. Und was gesagt wird, bleibt hier.

Die Teilnahme ist kostenfrei. Die AA finanzieren sich rein durch Spenden der Meeting-Teilnehmer. Und so steht auch in der Pauluskirche in der Mitte des Tisches ein kleines Bastkörbchen, in den der ein oder andere Geld legt. Daneben steht eine Schachtel mit kleinen Woll-Schlüsselanhängern, die einer der Teilnehmer strickt. Darf man sich einfach so nehmen, auch ohne zu spenden.

„Gute 24 Stunden"

Die Devise bei den AA: Alles ist freiwillig. Das Wort „nie wieder" gibt es nicht. Es geht um überbrückbare Zeitspannen: Lass das nächste Glas stehen, dann das übernächste. Trinke 24 Stunden nichts - daher kommt auch der Abschiedsgruß bei jedem Treffen „Gute 24 Stunden". Und irgendwann schafft man es vielleicht und lässt das erste Glas stehen.

Die AA seien das Beste, was aus Amerika gekommen ist, sagt einer der Kauferinger, der schon seit über 30 Jahren nüchtern ist. Laut den AA gründete sich die Selbsthilfeorganisation 1935 in Ohio, die Gründer, bei den AAs als Dr. Bob und Bill W. bekannt, hatten sich selbst als alkoholkrank diagnostiziert - gemäß dem ersten der ‚Zwölf Schritte', die grundlegend für die AA sind: „Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten." Nicht mehr meistern sei da noch gelinde ausgedrückt, sagt einer der Teilnehmer in Kaufering. „Ich hab mich nur noch durchgewurschtelt." Offiziell vom Bundessozialgericht als Krankheit anerkannt - und nicht mehr als Charakterschwäche, fehlender Wille oder Laune bezeichnet - wurde der Alkoholismus in Deutschland erst 1968.

Bei den AA gibt es neben den „Zwölf Schritten" auch die „Zwölf Traditionen". Und es gibt die „Zwölf Versprechen", die eintreten sollen, wenn man sich an die Schritte hält. Hört sich ein bisschen nach Sekte an. Aber in ihrer Präambel grenzen sich die AA von jeglichem Sektentum oder auch irgendeiner Zusammenarbeit mit einer anderen Organisation ab. Es gibt keine Kontrolle des Verhaltens der Teilnehmer außerhalb der Meetings. Und erst recht keine Bestrafung für ‚Fehler'. Die ‚Zwölfer-Regeln' sollen Struktur geben, kein Gesetz sein. Die AA sind zwar religiös geprägt: In den Zwölf Schritten ist viel von Glaube, höherer Macht und Gott zu lesen. Aber Glaube ist keine Voraussetzung, sagt einer der Kauferinger Teilnehmer. Es gehe vor allem darum, sich selbst die Sucht einzugestehen. Einzelne haben bestimmte Funktionen, zum Beispiel die des Gruppensprechers. Die Aufgaben rotieren aber, eine Hierarchie innerhalb der Gruppen existiert nicht. Oder wie es einer der Kauferinger formuliert: „Hier kann man nichts werden außer nüchtern."

Die alten Hasen

Selbsthilfe gilt inzwischen als „4. Säule im Gesundheitssystem". Sie biete Unterstützung, Beratung und gebe chronisch Kranken „eine starke Stimme nach außen", ist auf der Webseite der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe zu lesen. „Von den alten Hasen lernst du das Fahren. Von den Alten lernt man, dass es funktioniert", formuliert es ein Teilnehmer in Kaufering.

„Ich wüsste nicht, wo ich heute ohne die Gruppe wäre", sagt ein anderer. Vor seinem ersten Treffen, damals noch in der Brudergasse, habe er „Muffe gehabt wie Sau". Als dann dort aber einer der Teilnehmer von seiner Garage erzählte, in der er heute noch, nach Jahren der Abstinenz, versteckte Bierflaschen finde, „habe ich gedacht: ‚Woher kennt der meine Garage?'" Auf dem Heimweg nach dem Treffen sei er dann fast noch in die Stammkneipe gegangen. „Aber ich habe zu diesem kleinen, roten Teufel auf meiner Schulter gesagt: Nein, wir fahren jetzt heim. Und ab da hat sich mein Leben gewendet." Denn typisch für Alkoholkranke sei eben auch, nicht auf den Rat anderer zu hören. Oder zu denken, man müsse ja nur „ein bisschen weniger trinken". Höre man dann die Geschichten der anderen, werde einem, wie durch einen Spiegel, die eigene Krankheit viel deutlicher bewusst. „Und wenn die Leute hier in die Gruppe kommen, kannst du zuschauen, wie aus dem Zombie wieder ein Mensch wird."

Alkoholiker bleibe man aber für den Rest des Lebens. „Meine Seele ist immer noch krank", sagt einer der Kauferinger. „Ich höre manchmal das Gras wachsen - im negativen Sinn." Er sei ungemein empfindlich, schnell gekränkt. Und an jeder Ecke werde man mit seiner Sucht konfrontiert: Alkohol ist eine Gesellschaftsdroge, überall fast ohne Einschränkungen verfügbar. „In der Gesellschaft herrscht eine weit verbreitete unkritisch positive Einstellung zum Alkohol vor", schreibt das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Webseite. Für 2021 nennt es neun Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland, deren Alkoholkonsum „problematisch" ist. Deutschland liege trotz Rückgang in den letzten Jahren immer noch „im oberen Zehntel", was den Alkoholkonsum angehe. „Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkohol betragen rund 57 Milliarden Euro pro Jahr." Und die Rückfallquote innerhalb der ersten zwei abstinenten Jahre liege zwischen 40 und 60 Prozent. Das weiß auch einer der Kauferinger Teilnehmer: „Der kleine rote Teufel wartet nur auf seine Chance, wenn man gerade mal etwas wackelig ist." Auch nach 20, 30 Jahren.

Deshalb ist Zuversicht wichtig. Die bekräftigt sich in dem am Ende jedes Meetings von allen gemeinsam gesprochenen Gelassenheitsspruch: das Nicht-Änderbare hinnehmen, das Änderbare angehen, „die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden". In Kaufering liest einer der Teilnehmer dazu die ‚geerdetere' Variante vor: „Schließe ab mit dem was war, sei glücklich über das was ist. Das Leben ist schön, von einfach war nie die Rede."

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