Susanne Greiner

Journalistin, Landsberg am Lech

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Artikel

Der raumB1 in Utting und seine pin up Poesie

Utting - Ein Kasten mit Papier hängt an der Wand: „Zettel für Gedanken, Gedichte, Poesie" steht drauf. Daneben wartet ein kleiner Briefkasten auf Eingaben, „Zettel pin up poesie" steht da drauf. Und schließlich liegt ein Kugelschreiber parat, mit Hanfschnur am Briefkasten angebunden. Seit drei Wochen haben die Menschen bei Harry Sternbergs raumB1 am See in Utting die Möglichkeit, ihre Worte oder auch die anderer auf Papier zu bringen und an der Holzwand vor dem Eingang aufzuhängen. Inzwischen ist dort ein Wörter-Meer entstanden. Mit wahrer Poesie oder auch Zeugnissen des ganz banalen Alltags.

„Dank Lockdown endlich Zeit für: Staubflusen." Leni Gwinner dichtet über diese eine Staubfluse, die am Lampenschirm wabert, eine „Galaxie aus Brokatfasern, Blütenpollen, Silberfischchenschuppen und Weberknechtpuder". Diese Kunst der Beobachtung übersetzt in Worte steht an der Pin-up-Poesie-Wand direkt neben banalem Alltag: „Komm zu mir, wenn du kein Longpaper hast", fordert ein Zettel auf. Dessen Überschrift „86 zu der 938" lässt allerdings gleich wieder das Gedankenrädchen im Hirn anspringen: Wer ist 86? Und warum hat 938 drei Buchstaben? Ganz oben hängt kein Papier, sondern eine OP-Maske. Auf der steht „War nix?", mit schwarzem Filzer in Versalien geschrieben. Sie ist der Ursprung aller Dinge - zumindest der Pin up Poesie bei Harry Sternbergs raumB1.

„Die Maske hing eines Tages da an der Wand", erzählt der Uttinger Künstler. Das habe ihn zu der Idee animiert. Damit der Stein ins Rollen kam, schrieb er auch all seine Bekannten an, ob sie nicht ein paar Worte an der Wand hinterlassen wollten. „Da kamen viele Sachen zurück", sagt Sternberg. Einige per E-Mail, per Post, andere kamen selbst am roten Häuschen unter der Pinie vorbei und warfen ihre handschriftlich festgehaltenen Gedanken in Versen, Epen, Haikus oder auch Wortfetzen in die Zettelbox. Sternberg kennt viele der Dichter an der Wand, kann ihre Worte mit ihrer Person verbinden. Auch eine Art von Besuch in Zeiten, in denen Besuch nicht immer einfach ist. Sein Lieblingsgedicht stammt von seinem über 80-jährigen Freund Dieter Finzel, „Sekunde". Die Schreibmaschinenlettern korrigiert, manche ausgeixt. Am oberen rechten Rand steht „Gruß für Harry!".

„Am Anfang war es noch etwas träge, wohl das schlechte Wetter. Aber das wird jetzt sicher mehr werden", sagt Sternberg. Obwohl sehr viel mehr nicht mehr hinpasst. Der Holzuntergrund ist kaum mehr zu sehen. „Momentan schaffe ich immer noch Platz, hänge die Zettel enger. Mal sehen, was ich mache, wenn die Wand wirklich voll ist." Wie lange die Aktion läuft, weiß Sternberg nicht. Er ist da offen, generell eher planungswiderständig. Danach entsteht daraus eventuell ein Buch. Oder eine Lesung? Mal sehen.

Ein konkretes Datum gibt es aber: Im August widmet Sternberg den Jugendlichen sein ‚Haus'. Drei bis vier Kunststudenten bekommen von ihm den Schlüssel. „Die dürfen den Raum dann bespielen, wie sie wollen." Ganz ohne Vorgaben.

Die Gemeinde wisse seine Arbeit zu schätzen, sagt der Künstler, der keine zwei Minuten entfernt lebt. Demnächst werde gestrichen, der Kasten an der Wand macht Platz fürs raumB1-Logo, der Vertrag wird verlängert. Die drei Jahre mit dem raumB1 haben nicht nur das Gebäude verändert. Auch Sternberg. Er sei jetzt viel geselliger.

Der Reiz der Möglichkeit

Für Sternberg ist der raumB1 ein Glückstreffer. Eine Plattform der Möglichkeiten, Variationen, Platz für Kunst - mit den großen Schaufenstern auch gerade jetzt - , Musik, Feiern, Essen. Oder ein Ort zum Seele-baumeln-Lassen, auf der himmelblauen Bank, die vor der Tür steht, vor sich ein Fleckchen Gras, auf dem Sternberg immer mal wieder versucht, eine Blumenwiese anzusäen. Auch dazu sagt er „mal sehen" und lächelt.

Der Ort scheint eben Inbegriff der Möglichkeit zu sein. „Außerdem hat man hier alles", sagt Sternberg: die Pinie und den See für die Sehnsucht nach der Ferne, ein Dach über dem Kopf, nette Nachbarn W-Lan-Hotspot und Car-Sharing-Schlüsselkasten, ein Briefkasten steht am Eingang, daneben eine Telefonzelle - die gibt es tatsächlich noch - und ein Mülleimer. Da will Sternberg die Gemeinde mal um einen Flaschenhalter bitten, damit die Menschen, die Flaschen sammeln, nicht immer im Müll wühlen müssen. Demnächst kommt der soziale Kühlschrank noch neben die Eingangstür - für Essen ist also auch gesorgt. Und zu guter Letzt ist da noch der Bahnhof. „Von hier direkt nach Augsburg", denkt sich Sternberg. „Und von da dann nach Paris." Mal sehen. ks

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