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Stadtflucht: Was wollt ihr alle auf dem Land?

Eine Puderzuckerschicht hatte sich über gelegt, die Hundehaufen zugedeckt, die Autos ausgebremst. Über die Gehwege schoben sich Massen von Kindern und Erwachsenen mit Schlitten, Schüsseln, Rutschkissen, im Mauerpark wimmelte der Hang. Kleine Kinder rodelten, Teenager rutschten auf dicken Luftkissen oder Tüten, im Stehen, Sitzen oder Liegen, Jugendliche auf Skateboards, von denen sie die Rollen abmontiert hatten, andere hatten ihre Snowboards dabei. Alle schlittern und rodelten kreuz und quer. Wir auch.

Am Fuß der Piste wälzte sich gleichzeitig eine Karawane von Spaziergängern mit oder ohne Hund oder Kinderwagen durch den Park, umkurvt von Essenskurieren auf ihren Fahrrädern und Joggern mit Kopfhörern. Ihnen segelten die Rodler vor die Füße, meistens trennten die Kufen der einen nur noch ein paar Zentimeter von den Sohlen der anderen. Die Szene schien wie von einer höheren Macht gelenkt, eine unergründliche Choreografie aus perfekt aufeinander abgestimmten Bewegungen. Dazu wummerten die Bässe, ein paar Menschen tanzten auf der verschneiten Wiese zu den Beats, die ein auf ein Fahrrad montiertes Boxenset in den Himmel schickte. Schnee verzaubert die Stadt. Heute genauso wie an jenem Sonntag im Corona-Winter.

Einen Tag später fuhr ich mit den Kindern zu meinen Eltern, die in einem kleinen Städtchen im Münsterland leben. Auch dort zogen wir gleich los mit den Schlitten, immer an der Ems entlang bis zu einem Waldstück an einem kleinen Hügel. Auf dem Weg dorthin begegneten uns zwei Spaziergänger, am Fuße des Hangs machte eine gerade Rast, aus ihrer Thermoskanne dampfte der Kakao. Die Kinder hatten die ganze Pracht für sich, niemand sonst war dort. Es war sehr ruhig, es war sehr hübsch, und es war: reichlich öde.

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Ich kam mir vor, als wäre ich in ein Lifestyle-Experiment geraten: Stadtleben und Landleben im Direktvergleich. Es schien mir wie ein System-Contest: Wo und wie wollen wir leben? Modell A oder Modell B? Für mich war die Antwort klar. In meinen Augen ist die Stadt das ideale Habitat. Auch und gerade für eine Familie. Die Kinder dürfen gerne mehr sehen und erleben als dampfenden Kakao.

Menschen zwischen 30 und 49 fliehen

Allerdings scheinen das immer weniger Leute so zu sehen. Die Freuden des Landlebens und seine Überlegenheit gegenüber dem Stadtdasein werden seit einiger Zeit gepredigt wie eine neue Religion: von Prominenten wie Charlotte Roche, Kate Moss und Wladimir Kaminer genauso wie von Regalmetern an Magazinen wie Landlust, Landidee oder Landkind. Das Frankfurter Allgemeine Quarterly titelte schon 2017: "Die Städte werden immer öder. Freiheit, Fortschritt und Lebenslust finden wir nur noch auf den Dörfern."

Raus aufs Land, das ist die magische Formel, das ist der Königinnenweg zum Glück, da sind sich offenbar fast alle einig. Seit hat eine regelrechte Stadtflucht eingesetzt.

Eine Analyse von ZEIT ONLINE aller Umzüge innerhalb Deutschlands hat gerade ergeben, dass 2021 mehr als 100.000 Menschen die Großstädte verlassen haben - so viele wie seit der Wiedervereinigung nicht. Seit Ausbruch der Pandemie gibt es deutlich mehr Weg- als Zuzüge. Und es ist vor allem eine Gruppe, die die Großstadt verlässt: Menschen zwischen 30 und 49 Jahren.

Mich hat der Landleben-Hype die längste Zeit kaltgelassen, ich verspürte nicht die geringste Lust auf Äpfel pflücken, Mücken jagen, Tomaten ziehen. Alle wollen raus aufs Land? Ich nicht. Denk ich an Brandenburg, fallen mir Mischbrot, Ausfallstraßen und die engmaschige Betreuung durch die Nachbar:innen ein. #cottagecore? Gibt's höchstens auf Instagram. In real life warten da deutlich mehr grau-verhangene Wintertage, als man bei einer Rekord-Kürbis-Schau oder im Dorfkrug totschlagen kann. Und auf die Kinder lange Fahrten in die Schule, zur Ärztin, ins Kino.

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