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Kennen wir uns noch?

Man geht nicht in die Kneipe, weil man durstig ist. Das Bier ist im Supermarkt billiger, der Sessel zu Hause gemütlicher als jeder Barhocker. Man macht sich trotzdem auf den Weg, weil die Kneipe mit dem Versprechen lockt, dort Bekannte und weniger Bekannte zu treffen, Ablenkung und Unterhaltung zu finden, Neues zu erfahren. Solche Abende erscheinen einem mittlerweile wie eine weit zurückliegende Erinnerung.

Genauso wie die Gesichter jener Gelegenheitskontakte, von denen wir viele seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen haben. Wir haben Knuffelkontakte definiert, einen Haushalt oder einzelne Personen, die wir noch zum Spaziergang treffen. Unsere Bekannten dagegen hat die Pandemie verschluckt.

Es ist das Wesen von Bekanntschaften, dass sie unverbindlich sind. Man läuft einander über den Weg, tauscht sich kurz aus, verabredet sich aber eigentlich nie gezielt. Man telefoniert nicht, weil man womöglich gar nicht die Handynummer oder den vollen Namen voneinander kennt. Man sieht sich. Wenn aber Sportstudios und Bars geschlossen und Konzerte, Fußballspiele und Stadtfeste abgesagt sind, dann sieht man sich eben nicht mehr.

Je länger die Pandemie sich zieht, desto stärker spüren wir, wie sehr wir das vermissen: den kurzen Plausch am Kiosk, die Frotzeleien mit dem Teamkameraden, die Plauderei an der Haltestelle. Keine Neuigkeit elektrisiert uns, keine Idee treibt uns um. In Gedanken sucht man den Horizont ab, sehnt sich danach, endlich mal wieder jemanden zu treffen, der einem etwas Neues erzählt. Ruhig auch etwas Belangloses. Hauptsache etwas aus dem Leben.

Nikola K. hat diesen Austausch meist in den Cafés in Berlin-Prenzlauer Berg gesucht. Die 53-Jährige trägt lange, dunkle Haare, Brille, Parka, Skinny Jeans. Jahrelang habe sie ein tägliches Ritual gepflegt, erzählt sie. Erst brachte sie morgens ihren Sohn in die Kita, später zur Schule, danach holte sie sich in ihrem Kiez einen Kaffee.

Raus aus der Wohnung, um einen kleinen Plausch mit den anderen Stammgästen in ihren Lieblingscafés zu halten. Um sich zu unterhalten und unterhalten zu werden. "Wenn man einen 16-jährigen Sohn hat, der lacht natürlich nicht über die Witze der Mutter. Und man selbst findet den Humor von 16-Jährigen auch nicht so wahnsinnig komisch", sagt die alleinerziehende Mutter. Der kurze Plausch von einem Tisch zum anderen, der fehlt ihr jetzt.

Was auf dem Spiel steht, ist mehr als nur ein bisschen Spaß und Plauderei. Der amerikanische Soziologe Mark Granovetter hat in seinem viel beachteten Aufsatz The Strength of Weak Ties schon im Jahr 1973 gezeigt: Unsere weak ties, also die lockeren Bindungen, sind nicht weniger wichtig für uns als unsere engen Beziehungen - sie stillen nur andere Bedürfnisse. Während Freundinnen, Partner und Familienmitglieder uns emotional unterstützen, verschaffen unsere Bekannten uns neue Informationen und sorgen dafür, dass wir in eine größere Gemeinschaft eingebunden sind.

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