In Sachsen-Anhalt baut die deutsche Bundeswehr eine Stadt, in der sie die Kriege der Zukunft üben will. In drei Jahren soll Schnöggersburg fertig sein - trotz viel Kritik an dem Projekt.
Das erste Opfer des Krieges ist ein Schmetterling. Wanderschuhe und Armeestiefel stapfen über den frisch asphaltierten Weg; kaum jemand bemerkt das zertretene Tier. Eine seltene Art? Ein besonderer Falter? Schwer zu sagen, denn in Schnöggersburg stehen an diesem Tag andere Dinge auf dem Programm. Soldaten und Politiker haben sich auf dem Marktplatz versammelt. Panzer und Geländewagen stehen als Kulisse bereit, ein schwarz-rot-goldenes Band weht im Wind. So sieht es aus, das Richtfest in einer Stadt, in der nie ein Mensch leben wird.
Den virtuellen Tod sterbenSchnöggersburg ist eine Geisterstadt, errichtet zu einem einzigen Zweck: Hier will die deutsche Bundeswehr für die Kriege der Zukunft üben. Seit 2012 wird an dem "urbanen Ballungsraum", wie das Gelände im offiziellen Militärsprech heisst, gebaut; die Bundeswehr rühmt sich damit, dass dies die modernste Übungsanlage in ganz Europa werden soll. Die künstliche Stadt liegt etwa 50 Kilometer nördlich von Magdeburg in der Colbitz-Letzlinger Heide, dem grössten zusammenhängenden Heidegebiet Mitteleuropas. Die Wehrmacht führte hier Waffentests durch; später übernahm die Rote Armee das Gelände. Heute liegt das Areal wieder in den Händen der Bundeswehr - die künftige Kriegsgebiete möglichst realistisch nachstellen möchte und deshalb Schnöggersburg baut.
Normale Bürger dürfen Schnöggersburg nicht betreten. Das 2,5 mal 2,5 Kilometer grosse Gelände ist militärisches Stadtgebiet. Ein- oder zweimal im Jahr erlaubt die Bundeswehr jedoch Journalisten den Besuch der Baustelle. Wer die Checkpoints der Armee hinter sich gelassen hat, betritt eine seltsame Welt. Schnöggersburg ist eine Mischung aus Kleinstadt und Metropole. Ein Wohngebiet mit Einfamilienhäusern grenzt an einen abgeschotteten Bereich, in dem später der Komplex eines Warlords nachgestellt wird. Fenster gibt es nicht, auch keine Innenausstattung. Dafür Laser und Sensoren, die erfassen, ob bei einer Übung jemand getroffen wurde. Scharf geschossen wird in Schnöggersburg nämlich nicht. Stattdessen sterben Soldaten den "virtuellen Tod", wie es der Rüstungskonzern Rheinmetall, der das System entwickelt hat, formuliert.
Ein schützenswerter SakralbauWenn die Übungsstadt im Jahre 2020 fertig ist, wird sie 512 Gebäude umfassen, unter ihnen Einfamilienhäuser, Schulen und sogar eine U-Bahn, die einzige in Sachsen-Anhalt. Es gibt eine Mini-Autobahn, ein Botschaftsgelände, ein Gefängnis, ein Elendsviertel - und eine Kirche, die aber so nicht heissen darf, weil sie von der Architektur her auch eine Moschee oder eine Synagoge sein könnte. Der mitreisende Presseoffizier erläutert ein mögliches Szenario: "Der Sakralbau ist ein schützenswertes Gebäude. Das würde man versuchen nicht anzugreifen." Und wenn sich darin jemand verschanzt? "Dann gelten die ‹rules of engagement›", sagt der Soldat nebulös. "Ganz verhindern kann man einen Angriff eben nie."
1500 Soldaten sollen in Schnöggersburg gleichzeitig üben. 500 zusätzliche Mann sollen die Geisterstadt bevölkern und dort verschiedene Rollen einnehmen: Zivilisten, gegnerische Soldaten, Terroristen. Sogar einen künstlichen Fluss gibt es in Schnöggersburg, samt Brücke, die sich einfahren lässt, um eine Zerstörung zu simulieren. Auch im Untergrund kann gekämpft werden, wofür eine 540 Meter lange "Übungskanalisation" bereitsteht.
All das soll dem Ziel dienen, die deutsche Armee besser auf künftige Auslandseinsätze vorzubereiten. Die Bundeswehr geht davon aus, dass ihre Soldatinnen und Soldaten in Zukunft kaum noch in der freien Fläche kämpfen, sondern hauptsächlich in bebauten Gebieten. Gleichzeitig soll Schnöggersburg möglichst universell aussehen, um flexible Szenarien zu ermöglichen. Es gibt keine Schriftzeichen oder landestypischen Bauweisen. So könnte die Übungsstadt an einem Tag Kabul darstellen, am nächsten Mogadiscio oder Damaskus.
Kritik und ziviler UngehorsamDass von solchen Szenarien nicht alle begeistert sind, zeigt sich schon bei der Anfahrt zum Truppenübungsplatz. Friedensaktivisten haben ein Banner mit Peace-Fahnen entrollt, auf Transparenten ist zu lesen: "Du sollst nicht töten". In den zurückliegenden Jahren ist es immer wieder zu Protesten rund um die Baustelle gekommen. Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) zog vor Gericht, weil er nicht an der Planung von Schnöggersburg beteiligt worden war - "aus Geheimhaltungsgründen", wie die Bundeswehr erklärte. Das Gericht war anderer Auffassung. Demnach hätte der Verband sehr wohl eingebunden werden müssen. Abgewiesen wurde die Klage trotzdem, weil sie nicht fristgerecht eingereicht worden war.
"Die Justiz ist nicht mehr unabhängig", meint hingegen Malte Fröhlich, Mitglied der Initiative Offene Heide. Der 50-Jährige ist ein Urgestein in der Altmark. Hauptberuflich baut er Kinderspielplätze; privat engagiert er sich in der Friedensbewegung, und das bereits seit DDR-Zeiten. "Die Nato ist aus unserer Sicht ein Aggressionsbündnis", sagt Fröhlich. "Was hier passiert, ist eine schwere Form von Regierungskriminalität." Vor allem das Üben in Städten stört die Aktivisten: Laut Genfer Konvention müssen Zivilisten geschützt werden. Aber genau dort, in den Städten, lebten doch Zivilisten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Einsatz deutscher Soldaten im Ausland lange tabu; die Bundeswehr diente als reine Verteidigungsarmee. Ab den 1990er Jahren hat sich das Selbstverständnis allmählich gewandelt. Einen Einschnitt markierte das Jahr 1995, als der Bundestag den Einsatz der Bundeswehr im Bürgerkriegsland Bosnien-Herzegowina (unter Uno-Mandat) erlaubte. Wenige Jahre später, 1999, beteiligten sich deutsche Soldaten in Kosovo erstmals aktiv an einem Krieg - eine innenpolitisch hoch umstrittene Entscheidung, weil der Einsatz nicht durch ein Uno-Mandat gedeckt war. Seither ist die Bundeswehr praktisch ununterbrochen in internationale Missionen eingebunden. Derzeit beteiligt sie sich an fünfzehn Einsätzen, unter anderem in Afghanistan, im Sudan, in Somalia, in Mali und im Mittelmeer.
Seit Jahren demonstriert die Initiative gegen die militärische Präsenz in ihrer Heimat, wofür sie 2016 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Einmal ziehen die Aktivisten mit ihrem Anliegen vor Gericht, ein anderes Mal vor das Karrierecenter der Bundeswehr. Beim Sachsen-Anhalt-Tag im vergangenen Sommer wollten sie mit dem Motto "Thesen statt Prothesen" am Festumzug teilnehmen. Doch die Veranstalter lehnten ab - zu politisch. "Es gibt für uns zwei Ebenen des Protests", erklärt Fröhlich. "Zum einen die legale Ebene, zum anderen die des zivilen Ungehorsams." So sind die Mitglieder der Initiative bereits mehrfach auf das Baustellengelände eingedrungen. Bei ihren "Go-ins", wie sie die Mahnwachen nennen, fotografieren sie und stellen die Bilder ins Internet. Das erklärte Ziel: ein aufsehenerregender Gerichtsprozess, bei dem das Projekt Schnöggersburg als Ganzes infrage gestellt werden kann. "Es bleibt aber immer nur bei Ordnungswidrigkeiten und Bussgeldern", sagt Fröhlich ein wenig enttäuscht.
Ein weiteres Argument, das gegen Schnöggersburg ins Feld geführt wird: Die Bundeswehr trainiere damit für den (laut Grundgesetz verbotenen) Einsatz im Inland. Spätestens seit den jüngsten Terroranschlägen in Europa wird in der Politik wieder offen über das Thema diskutiert. Oberst Uwe Becker, der Leiter des Gefechtsübungszentrums Heer, kam in einem Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk ebenfalls darauf zu sprechen. Im Augenblick gebe es eine ganz klare Rechtslage, was den Einsatz der Bundeswehr im Inneren angehe, betonte Becker. Die Bundeswehr bereite sich in Schnöggersburg zunächst einmal auf den Einsatz im Ausland vor. "Im Augenblick", "zunächst" - solche Worte beruhigen Kritiker nicht.
Explodierte KostenIn Sachsen-Anhalt steht derzeit ein breites politisches Bündnis hinter Schnöggersburg. Die Grünen hatten 2013 noch eine Beschwerde bei der EU-Kommission gegen die Geisterstadt eingereicht - inzwischen sind sie selbst Teil der Landesregierung. Für die Befürworter zählen vor allem drei Argumente: Zum einen schaffe Schnöggersburg Arbeitsplätze und Aufträge für die regionale Bauwirtschaft. Zum anderen sei die Bundeswehr eine Parlamentsarmee, die politisch kontrolliert werde. Und schliesslich habe sich die Art der Einsätze in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert - von der reinen Verteidigung hin zu internationalen Friedensmissionen.
Ganz anders sieht das Andreas Höppner, der Landesvorsitzende der Partei Die Linke in Sachsen-Anhalt. "In Schnöggersburg wird der Angriffskrieg geübt", kritisiert Höppner. Die Stadt sei so angelegt, dass man auch den Einsatz im Inneren üben könne. Auch die Kosten der Anlage stören den Politiker. 140 Millionen Euro wird Schnöggersburg nach heutigem Stand kosten, 30 Millionen mehr als anfangs geplant.
Beim Richtfest in Schnöggersburg wird solche Kritik allenfalls angedeutet. "Gott sagt: Liebe deine Feinde", sagt der Militärpfarrer, bevor er mit der Segnung der Geisterstadt fortfährt. Sonst verläuft das Programm genau so, wie es sich die angereisten Landespolitiker und Vertreter der Bundeswehr vorstellen. Marschmusik, Bundesadler, Stehtische neben Schützenpanzern. Noch am selben Tag stellt die Bundeswehr ein Drohnen-Video ins Netz, das die Übungsstadt von oben zeigt - untermalt mit bombastischer Musik, wie in einem Actionfilm.
"Nicht ganz" die RealitätKrieg und Frieden, Realität und Show: In Schnöggersburg prallen zwei Welten aufeinander. "Ich verstehe den Protest gegen den Krieg", sagt Mandy Zepig, die Bürgermeisterin des Nachbarortes Gardelegen. "Ich würde mir auch wünschen, dass wir einen solchen Ort nicht brauchen. Aber solange es eine solche Welt nicht gibt, bin ich stolz, dass das Gefechtsübungszentrum hier ist." Malte Fröhlich von der Initiative Offene Heide kann mit solchen Aussagen wenig anfangen. "Niemand möchte neben Panzern wohnen", sagt der Friedensaktivist. "Wir haben Sympathisanten in allen Parteien. Aber sobald Arbeitsplätze versprochen werden, bröckelt die Front."
Nach der Zeremonie dürfen die geladenen Gäste Schnöggersburg selbst erkunden. Von nahem sieht die flexibel gestaltbare Übungsstadt doch ziemlich deutsch aus: die LED-Strassenlaternen. Der normierte Autobahn-Abschnitt. Die Strassenschilder, auf denen das Maximalgewicht von Panzern steht. "Daran sieht man, dass ein Leopard II problemlos über die Brücke fahren kann", erklärt der Presseoffizier. Nach kurzem Zögern muss er darüber selbst schmunzeln. "Im echten Einsatz würden unsere Pioniere diese Brücke erst einmal erkunden", sagt der Soldat. "Aber das hier ist eben nicht die Realität. Zumindest nicht ganz."