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„Ich lebe im Schnee“

Chancenlose Athleten – so werden Sportlerinnen und Sportler aus Südamerika fernab vom Fußball gerne genannt. „Es gibt Menschen, die Stereotype durchbrechen“, sagt Emilia Aramburo. Die 19-jährige Alpin-Skifahrerin aus Chile nahm in Peking zum ersten Mal an den Olympischen Winterspielen teil.


„Ich hatte die Option, zu den Olympischen Spielen zu fahren, ausgeschlossen“, erzählt Emilia Aramburo über Zoom. Sie ruht sich im Süden Chiles aus, die Verbindung bricht immer wieder ab. Also läuft sie zu den Nachbarn und fragt nach dem WLAN-Passwort. Am 7. Februar, ergattert sie im Riesenslalom der Frauen mit einer Gesamtzeit von 2:16,32 Minuten den 42. Platz bei den Olympischen Spielen in Peking. Im Slalom zwei Tage später scheidet sie aus. Dass sie überhaupt teilnehmen konnte, gleicht einem Wunder. 


Zwischen Weihnachten und Neujahr bekommt sie den Anruf: Matilde Schwencke habe sich verletzt und könne nicht in Peking antreten. Als Zweitplatzierte dürfe sie sofort nachrücken, aber Aramburo zögert: „Ich fühlte mich überhaupt nicht vorbereitet.“ Vor einem Jahr hatte die chilenische Meisterin ein Wirtschaftsingenieurs-Studium begonnen und  deshalb keine Zeit, um in Europa trainieren. In Chile verbringt sie wenig Zeit auf den Skipisten, denn der Winter ist kürzer als sonst. Außerdem verletzt sie sich mehrfach. „Nach meiner Genesung bin ich wieder angetreten, aber am 3. September hatte ich bei einem Rennen einen Unfall.“ Ein Trizepsriss beendet die Saison 2021 für sie.


Corona-positiv kurz vor Beginn der Spiele


„Bei den Olympischen Spielen mitzumachen, ist ein Traum für jeden Sportler. Viele verstehen nicht, warum ich nicht sofort zugesagt habe. Ich wollte dem ganzen Respekt zollen“, erzählt Aramburo. „Am Ende habe ich es aber auch verdient. Dass ich die Zweite auf der Liste bin, ist das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit.“ Wie alle in ihrer Familie fährt Aramburo Ski, seit sie klein ist. Im chilenischen Winter fehlt sie in der Schule, ihre Freundinnen bekommen sie kaum zu Gesicht. „Im Winter lebe ich im Schnee.“ 2019 nimmt sie an der Alpinen Ski‑Juniorenweltmeisterschaft in Italien teil.


Sie sagt zu, findet kurzfristig eine Trainerin – die Spanierin Leyre Morlans, die sie in Italien vorbereiten soll. „Und dann wird mein Bruder positiv auf Corona getestet. Danach mein Vater und ich. Es war furchtbar.“ Zwei Wochen lang wartet sie auf das negative Ergebnis, um nach Europa reisen zu können. Am 13. Januar landet sie in Italien und trainiert aus Zeitmangel in einem Acht-Tage-Intervall, anstatt der üblichen sieben. „Am 1. Februar bin ich nach China geflogen und habe noch drei weitere Tage trainiert“, erzählt sie. „Ich bin sehr zufrieden mit meinen Ergebnissen. Sie sind besser als erwartet. Ich gehöre zu den 50 besten Athletinnen im Riesenslalom.“ Natürlich frage sie sich, ob sie mit mehr Zeit zur Vorbereitung ein besseres Ergebnis erzielt hätte. „Aber vielleicht war ich auch nur so gut, weil ich mich nicht unter Druck gesetzt habe.“ 


In Chile ist Skisport beinahe unbekannt


Chile ist keine Olympia-Nation und auch nicht für herausragende Wintersportler bekannt. „Obwohl wir praktisch alle Anforderungen erfüllen, mit all unseren Bergen.“ Aber die Klimakrise verschlechtert die Trainingsbedingungen. „Es gibt eine große Wasserknappheit in der Region um Santiago“, sagt Aramburo. Für einen großen Teil der chilenischen Bevölkerung ist das existenzbedrohend. Für den Wintersport bedeutet es, dass sich die Saison immer mehr verkürzt, denn in den Anden der Metropolregion fällt kaum noch Schnee. Zum Trainieren müssen die Sportlerinnen und Sportler das Land verlassen, was sich nicht alle leisten können. Die geringe Aufmerksamkeit und wenige Unterstützung, die ihr Sport bekommen, ärgern Aramburo. Das Stigma der Chancenlosigkeit findet sie problematisch: „Es ist möglich. Man muss aber sehr hart trainieren. Woanders ist Ski Nationalsport. Aber es gibt auch Menschen, die Stereotype durchbrechen.“ 


Neben Aramburo qualifizieren sich nur drei weitere Athleten – Skirennläufer Henrik von Appen, Biathlet Yonathan Fernández und Dominique Ohaco, Freestyle-Skierin – für die Olympischen Winterspielen in Peking. Letztere ist auch Influencerin auf Instagram und TikTok. „Ich bleibe eher unter dem Radar und werde auch nicht mit einem Ski-Lifestyleblog anfangen“, sagt Aramburo und verzieht das Gesicht. „Das Olympische Komitee will jetzt eine Reportage drehen, wie ich trainiere. Ich bin gespannt, wie sie das im Sommer ohne Schnee machen wollen.“