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Was Chilen*innen in Hamburg über das Referendum denken

Ab dem 18. Oktober 2019 kam es zu einer beispiellosen Mobilisierung in Chile, ein gutes Jahr später sprachen sich vier Fünftel der Wähler*innen für eine neue Verfassung aus. Auch in Hamburg wurde abgestimmt.Von Stephanie Álvarez Am 25. Oktober haben Chilen*innen für eine neue Verfassung gestimmt und damit Geschichte geschrieben. Das klingt klischeehaft, mit 78% der Stimmen für eine neue Verfassung ist dem chilenischen Volk aber tatsächlich ein historischer Sieg gelungen, der einen Neuanfang markiert. Die Regierung Sebastián Piñeras beschloß das Referendum auf Druck der Bevölkerung, die sich seit Oktober letztes Jahr in massiven Protesten gegen die soziale Ungleichheit im Land organisiert. Eigentlich sollte das Referendum im April stattfinden - wurde dann aber wegen der Coronapandemie um ein halbes Jahr verschoben.

Ich stehe in der Wahlkabine und habe ein flaues Gefühl im Magen. Es sind nur zwei Sekunden, in denen ich nicht ganz da bin. Ich frage mich, was ist, wenn mein Stift doch nicht schreibt und merke, dass bis ich bis vor zwei Sekunden gar nicht realisiert habe, was heute passiert. Anders als der US-Wahl ist das chilenische Referendum nicht besonders präsent in meinem Alltag. Es findet nur in meinem Handy statt.

Ich setze an und streiche mit einer blauen Linie eine schwarze durch. Darunter steht Apruebo - "Ich stimme zu". Einer neuen Verfassung für Chile. Auf einem zweiten Wahlzettel entscheide ich mit über den Konvent, der diese neue Verfassung gestaltet. Sollen alle seine 155 Mitglieder direkt vom Volk gewählt werden ( Convención Constitucional) oder nur die eine Hälfte ( Convención Mixta Constitucional)? Die andere würde bei letzterer Option entsprechend aus Mitgliedern des Parlaments bestehen, die sich selbst wählen.

Die meisten Chilen*innen, die Apruebo wählen, stimmen auch für einikomplett vom Volk gewähltes Verfassungskonvent. Anders als das Apruebo steht Convención Constitucional als zweite Option auf dem Wahlzettel. In den Sozialen Medien und in der Warteschlange vor dem Konsulat in Hamburg wirkt das auf einige, als ob man ihnen absichtlich kleine Hindernisse in den Weg stelle. Auch die Namen der Optionen finden viele irreführend.

Ich falte meinen Wahlzettel. Zweimal längs und einmal quer. Oben und rechts stehen zwei Laschen über. Die obere - auf ihr steht PLEBISCITO - falte ich nach unten und klebe sie mit einem Sticker zu. Dasselbe mache ich mit dem zweiten Wahlzettel, der einen leichten Gelbstich hat. In Deutschland knicke ich Wahlzettel einfach irgendwie und werfe sie unter gelangweilten Blicken in die Wahlurne. Meistens muss ich vorher nicht einmal meinen Ausweis zeigen.

Hier gebe ich die zu einem Päckchen gefalteten Zettel den Wahlhelferinnen, die die Zahlen auf der immer noch abstehenden rechten Lasche mit den Zahlen, die sie vorher neben meinen Namen in ein Buch eingetragen haben, abgleichen. Dann reißen sie die Lasche ab, ich bekomme das Päckchen zurück und werfe es in die erste Wahlurne. Auch beim zweiten Zettel wird alles genau dokumentiert und laut kommentiert.

Dass ich im chilenischen Konsulat in Hamburg von Deutschland aus wählen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Erst 2017, bei den Präsidentschaftswahlen, war das zum ersten Mal möglich für Chilen*innen, die im Ausland leben. Damals wählten etwas mehr als 200 Leute in Hamburg.

"Der Unterschied zu heute ist riesig. Wir haben keine ruhige Minute seit acht Uhr morgens. Da wollten schon zwanzig Leute wählen", erzählt mir die Wahlhelferin Pilar Campos Núñez in einer Hygienepause, die alle zwei Stunden stattfindet. "Die Zahl der registrierten Wählerinnen und Wähler hat sich mehr als verdoppelt. Es sind 680." Am Ende werden zwar nur 446 Chilen*innen wählen - mit einer Wahlbeteiligung von 50,8% haben sie im ganzen Land und im Ausland trotzdem die höchste Wahlbeteiligung erreicht, seit sie bei Volljährigkeit automatisch im Wahlregister stehen. Vor 2012 mussten sie sich in ein Wahlregister einschreiben und verpflichteten sich dazu, wählen zu gehen.

"Ich bin freiwillig Wahlhelferin, weil mich der Prozess schon immer interessiert hat. Vor allem als Frau ist Wählen ein Anrecht. Viele Frauen haben ihr Leben gelassen für dieses Recht", meint Campos Núñez. Kurz vor zwölf Uhr nachts wird sie die letzte Stimme an ihrem Tisch ausgezählt haben. Zehn Minuten später werden die Stimmen am zweiten Wahltisch ausgezählt sein. Mit allem sind die Wahlhelferinnen, Mitarbeiter des Konsulats und die Wahlbeobachter um spät nach ein Uhr am Montagmorgen fertig. 82% der Stimmen in Hamburg sind für eine neue Verfassung, 83% für einen direkt gewählten Verfassungskonvent.

Das Ergebnis ist nicht sonderlich überraschend. Beim Schlangestehen auf dem Gehweg vor dem Konsulat unterhalten sich Chilen*innen angeregt über die politische Lage. "Yo rechazo", rufen einige nur aus Spaß. Es gibt schließlich auch mehr Gründe, die für eine neue Verfassung sprechen als die alte nur zu reformieren. Da ist zum einen ihre Herkunft. In den Achtzigern während der Militärdiktatur von einigen Männern erdacht und in einer gefakten Wahl legitimiert.

"Wir sind das einzige Land, das seine Verfassung nach dem Ende einer Diktatur nicht geändert hat. Mittlerweile haben wir gemerkt, dass wir deshalb seit 30 Jahren im Übergang zur Demokratie leben. Das hier ist eine Chance. Es geht darum, in Würde zu leben", sagt Víctor. "Ich glaube auch, dass eine Verfassungsänderung nicht nur eine Chance für die Zukunft, sondern auch eine Schuldenbegleichung ist. Für unsere Eltern und Großeltern, Tanten und Onkel." Víctor wähle nicht für sich allein, sondern für das Gemeinwohl.

"Viele Chilenen wählen auch, weil sie zurückkehren möchten", erzählt Isidora. "Vielleicht hat uns das Land nicht die Möglichkeit gegeben uns dort zu entwickeln, aber ich möchte zumindest zurückkehren." Mittlerweile regnet es in Strömen. Die 26-jährige Studentin teilt sich einen Regenschirm mit ihrem Partner Víctor. "Begreift man Chile als neoliberales Labor der Achtziger, bedeutet eine neue Verfassung auch eine Botschaft an die Welt: Dieses Modell hat nicht funktioniert", meint Simón, ein Freund der beiden. "Wir Chilenen leben eigentlich in der Zukunft von Europa. Die Privatisierung und die Wahlpolitik sind in erster Linie Modelle."

Der Chilene sieht die neoliberalen politischen Debatten in Deutschland kritisch. "Ich lebe seit ungefähr sechs Jahren hier und jetzt sehe ich, wie in den Nachrichten, erklärt wird: 'Vielleicht sollten wir unser Rentensystem überdenken. Vielleicht sind Renten ein guter Antrieb für den Finanzsektor?' Bloß nicht, wir kommen aus der Zukunft und wissen: Lasst das lieber sein."

Er bezieht sich damit auf das privatisierte chilenische Rentensystem AFP. Es besteht aus sechs privaten Pensionskassen, die die Rentenbeiträge an der Börse anlegen. Ihre Gewinne sind hoch, die Renten erreichen zum Großteil nicht einmal den Wert des chilenischen Mindestlohns von etwas mehr als 320 Tausend Pesos (360 Euro).

Alles gestützt von der chilenischen Verfassung, die Privatunternehmen favorisiert und das Eigentum über die Grundrechte der Menschen stellt. Ein neoliberales Musterland ist Chile trotzdem nicht, weil kaum Wettbewerb stattfindet. Die meisten Firmen gehören den sieben reichsten Familien des Landes. Die Privatisierung macht auch nicht vor dem Bildungswesen, dem Gesundheitssektor oder natürlichen Ressourcen wie Wasser halt.

„Sentido en Común" von Sophia Boddenberg und Michell Moreno (mit deutschen Untertiteln)

"Studieren ist in Deutschland fast umsonst. Es gibt Sozialleistungen und Krankenversicherungen, die absichern. Ich glaube, wir Chilenen im Ausland sind diejenigen, die am stärksten merken, was es für ein Privileg ist, nicht in Chile zu leben", erzählt die Hamburgerin Isabell Möller Lobos. "Man merkt es, wenn man einem Deutschen erklären muss, dass ein Student in Chile sich für fünf Jahre verschuldet, um zu studieren. Es fällt ihnen wirklich schwer, das zu verstehen. Auch, dass man in einem öffentlichen Krankenhaus am Eingang einen Blankoscheck abgibt, damit man operiert wird, verstehen sie nicht."

Die internationale Perspektive helfe mit einer anderen Logik zu denken, meint die Historikerin. "Alle, die wir hier leben sind privilegiert und müssen deshalb solidarisch mit unseren Landsleuten und anderen Nationalitäten in Chile sein. Sie arbeiten auch an unserem Land."

Was viele Chilen*innen im Ausland eint, ist auch das Gefühl der Ohnmacht. Die Proteste des vergangenen Jahres nur aus der Ferne beobachten zu können, hat viele belastet. "Das alles war unglaublich widersprüchlich, weil wir hier in einer anderen Wirklichkeit leben", erklärt Madeline. „Mit einem Gefühl der Machtlosigkeit", fügt Geraldine hinzu. Beide sind vom Cabildo Abierto in Bremen.

Neben Protestaktionen und Aufklärungsarbeit ist das Referendum für sie die einzige Möglichkeit, etwas für Chile von Deutschland aus zu tun. An der Wahl der Mitglieder des Verfassungskonvents im April können Auslands-Chilen*innen bisher nicht teilnehmen. Einige organisieren sich deshalb in asambleas und cabildos, um für mehr Teilhabe an demokratischen Prozessen zu kämpfen.

Die wenige Befürworter der aktuellen Verfassung halten sich den Wahltag über bedeckt. "Ich vermute, dass die meisten Angst davor hatten, angegriffen zu werden", erzählt mir Pamela ein paar Tage später am Telefon. "Ich wurde auch bedroht als ich darauf hinwies, dass Wahlwerbung verboten ist." Sie war Wahlbeobachterin für das Rechazo. Anders als in Deutschland sind die Wahlbeobachter in Chile nicht unabhängig, sondern parteiisch. Für das Apruebo waren sechs Leute da, für das Rechazo nur drei. Das Wahlergebnis ist für sie ein schwerer Schlag: "Für mich persönlich und für das Land. Das Ergebnis erzeugt Instabilität und zeugt von wenig Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Ausland und ausländischen Investoren."

Der Andrang an Chilen*innen in Hamburg habe sie aber tief beeindruckt. Gleichzeitig zeigt sie sich besorgt darüber, wie uninformiert einige Wähler*innen waren. "Im Ausland sollten wir bedachter mit unserer Stimme umgehen, weil wir etwas beeinflussen, was uns nicht direkt betrifft", erklärt sie. "Ich wünsche mir, dass sich die Menschen besser informieren. Es war schon sehr auffällig: Einige wussten nicht, dass die Wahl aus zwei Fragen besteht oder ob sie in Hamburg registriert waren."

Dass viele die Verfassung deshalb ablehnen, weil sie aus der Pinochet-Diktatur stammt, ist für sie nicht ausreichend. Schließlich sei sie über 250 Mal geändert worden und trage schon lange nicht mehr die Unterschrift von Pinochet, sondern die von Ricardo Lagos, dem sozialdemokratischen Präsidenten des Landes von 2000 bis 2006. "Die aktuelle Verfassung mag zwar nicht perfekt sein, aber eine neue löst die Probleme des Landes auch nicht. Außerdem weiß man auch nicht, was in der neuen stehen wird. Es ist ein bisschen, wie in die Luft zu wählen."

Tatsächlich besteht auch immer noch die Möglichkeit, dass die alte Verfassung weiter rechtskräftig bleibt. Nämlich dann, wenn die chilenische Bevölkerung 2022 in einem erneuten Volksentscheid gegen die neue stimmt.

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