Stephan Kaufmann

Wirtschaftsjournalist, Berlin

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Die Risiken des globalen Finanzsystems

Es darf kein Tabu sein, staatliche Schulden über die Notenbanken zu finanzieren. Schließlich ist das Wirtschaftswachstum schwach und die politische Unzufriedenheit so groß wie die vererbte Schuldenlast. Doch kostenlos ist auch dieser Weg nicht. Auf lange Sicht braucht es andere Lösungen.Von Adair Turner

DGB/Maksym Yemelyanov/123rf.com

Schon seit die großen Notenbanken im Herbst 2008 die kurzfristigen Zinssätze auf nahezu null senkten und anschließend im Rahmen ihrer quantitativen Lockerung enorme Mengen an Anleihen aufkauften, debattieren die Ökonomen, wann und wie schnell der „Ausstieg" aus dieser unorthodoxen Geldpolitik erfolgen würde.

Doch ein Jahrzehnt später liegen die Zinsen in den hochentwickelten Ländern noch immer deutlich unter Vorkrisenniveau, und das dürfte auch so bleiben. Die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen von -0,22 Prozent (Stand: 1. Juni) signalisiert die Markterwartung, dass die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Nullzinspolitik nicht bloß bis 2020 (dem in den offiziellen Hinweisen der EZB zur Leitzinsentwicklung avisieren Datum), sondern bis 2030 fortsetzen wird. Die Renditen japanischer Anleihen implizieren Null- oder Negativzinsen für sogar noch länger. Und während die Zehnjahresrenditen in Großbritannien und den USA knapp über 1 Prozent bzw. 2,4 Prozent liegen, legen beide jeweils nahe, dass für die nächsten zehn Jahre minimale oder gar keine Erhöhungen der Leitzinsen folgen werden.

Die Tiefe der Rezession resultierte aus der Fragilität des Finanzsystems

Die Finanzkrise von 2008 hat also womöglich ein volles Vierteljahrhundert drastisch niedrigerer Zinsen eingeläutet. In dieser neuen Normalität könnten in einigen Ländern noch weitere unorthodoxe geldpolitische Maßnahmen - darunter Formen der Finanzierung staatlicher Schulden über die Geldpolitik - erforderlich sein, um ein angemessenes Wachstum aufrechtzuerhalten.

Die Finanzkrise ereignete sich 2008, weil Regulierungsmängel die Entstehung enormer Risiken innerhalb des Finanzsystems selbst zugelassen hatten. Doch die Tiefe der darauf folgenden Rezession und die anschließende lange Phase schwachen Wachstums resultierten nicht aus einer anhaltenden Fragilität des Finanzsystems, sondern aus der übermäßigen Menge an Schulden in der Realwirtschaft, die sich im Laufe des vorangegangenen halben Jahrhunderts aufgebaut hatte. Zwischen 1950 und 2007 wuchsen die Schulden des privaten Sektors (Haushalte und Unternehmen) in den hochentwickelten Ländern von 50 auf 170 Prozent vom BIP, und ein ausreichendes Wachstum schien nur erreichbar, wenn die Schulden schneller wuchsen als das nominale BIP.

DGB/Sergey Rudavin/123rf.com

Nach der Krise entwickelte sich das Kreditwachstum negativ und blieb für viele Jahre niedrig, und zwar nicht, weil es einem beschädigten Finanzsystem an dem zur Kreditvergabe nötigen Kapital fehlte, sondern weil die überschuldeten Haushalte und Unternehmen trotz Nullzinsen entschlossen waren, ihre Schulden abzubauen. Dasselbe Muster war in den 1990er-Jahren in Japan zu beobachten.

Die Sparpolitik führte auch zu einer populistischen Gegenreaktion

In diesem Umfeld waren umfangreiche fiskalische Impulse die einzige Möglichkeit, um auch nur ein schwaches Wachstum zu erreichen. Das öffentliche Defizit Großbritanniens stieg 2009 auf 10,1 Prozent vom BIP, und das US-Defizit blähte sich auf 12,17 Prozent auf. Selbst in der Eurozone stieg das Defizit auf 6,3 Prozent. Doch gelangten aufgrund des unweigerlichen Anstiegs der Staatsverschuldung viele Regierungen zu dem Schluss, dass diese großen Defizite schnell begrenzt werden müssten. Ihre Sparpolitik führte im Verbund mit den privaten Entschuldungsbemühungen zu unter ihren Zielwerten verharrenden Inflationsraten, einem enttäuschen Anstieg der Reallöhne und, politisch, zu einer populistischen Gegenreaktion.

In 2016 schien es, als sei Regierungen und Notenbanken die geld- oder eben fiskalpolitische "Munition ausgegangen". Die Ökonomen debattierten, ob angesichts von Nullzinsen und hoher Staatsverschuldung überhaupt eine Politik eine säkulare Stagnation vermeiden könne. Einige, darunter auch ich, brachen mit dem ultimativen politischen Tabu und schlugen vor, eine Finanzierung der erhöhten Haushaltsdefizite über die Geldpolitik in Betracht zu ziehen. Der ehemalige Chef der Federal Reserve Ben Bernanke argumentierte, dass sich ohne übermäßige Inflation nützliche Konjunkturimpulse erreichen ließen, solange der Umfang einer derartigen Finanzierung durch unabhängige Notenbanken bestimmt würde,.

Nur zwei Jahre nach dem düsteren Tiefpunkt von 2016 jedoch schien sich der Himmel dramatisch aufgehellt zu haben. Bis 2018 waren die Prognosen für das weltweite Wachstum und die Inflation deutlich gestiegen, und Notenbanken und Märkte konzentrierten sich einmal mehr auf den lange erwarteten „Ausstieg" aus der unorthodoxen Politik. Es ist unerlässlich, zu verstehen, was diese plötzliche Verbesserung antrieb.

DGB/Stephan Jockel/Flickr/CC BY-SA 2.0

Die Antwort ist simpel: eine massive fiskalische Expansion, die in zwei großen Volkswirtschaften teils oder komplett durch Notenbankgeld finanziert wurde. Das US-Haushaltsdefizit stieg von 3,9 Prozent (2015) auf 4,7 Prozent (2018) vom BIP, Tendenz steigend. Chinas Haushaltsdefizit stieg von unter 1 Prozent im Jahr 2014 auf über 4 Prozent. Japans verharrte bei rund 4 Prozent, und das Land gab frühere Pläne auf, es bis 2020 auf null zurückzuführen. Und während die fiskalische Expansion in den USA durch Anleiheverkäufe an den privaten Sektor finanziert wurde, wurden in China große Anleihekäufe durch die Handelsbanken indirekt durch die Notenbank finanziert, während in Japan der Nettoanstieg der Staatsverschuldung komplett über den Ankauf von Staatsanleihen durch die Notenbank finanziert wird. Die Weltwirtschaft erholte sich, weil sich die drei weltgrößten Volkswirtschaften von der Vorstellung verabschiedet hatten, dass hohe öffentliche Schuldenlasten eine weitere fiskalische Expansion unmöglich machten.

Doch sind die Auswirkungen dieser Konjunkturimpulse inzwischen verblasst. Das Wachstum in den USA sinkt, weil der Einmaleffekt von Präsident Trumps Steuersenkungen nachlässt; China kämpft, um seine exzessive Verschuldung zu begrenzen und die Auswirkungen von Trumps Zollerhöhungen auf Exporte und Vertrauen zu bewältigen, und Japan wird im Oktober eine lange geplante Verkaufsteuer-Erhöhung umsetzen, die das Konsumwachstum zu verlangsamen droht. Auch das Wachstum in der Eurozone lässt angesichts der sinkenden Außennachfrage nach.

Auf Dauer lässt sich eine Krise nicht über Geldpolitik lösen

Wir haben es also wieder mit derselben Frage zu tun wie 2016: Was tun angesichts einer drohenden Stagnation, wenn die Zinssätze bereits in Nullnähe liegen? Unter den vorgeschlagenen Antworten sind Varianten der Finanzierung über die Geldpolitik. Die Vertreter der "modernen geldpolitischen Theorie" argumentieren, dass geldfinanzierte Haushaltsaufwendungen der normale Mechanismus zur Steuerung der nominalen Nachfrage sein sollten, und der "grüne New Deal" präsentiert die Übernahme staatlicher Schulden durch die Notenbank als mögliche Option zur Finanzierung gesellschaftlich und ökologisch wünschenswerter Investitionen.

Die diesen Vorschlägen zugrundeliegende Erkenntnis - dass Regierungen und Notenbanken gemeinsam immer eine nominale Nachfrage erzeugen können - wurde von Milton Friedman in einem bedeutenden Fachaufsatz aus dem Jahr 1948 erläutert. Doch es ist zugleich sehr wichtig, zu begreifen, dass eine übertriebene Finanzierung über die Geldpolitik enorm schädlich ist und dass es gefährlich ist, sie als kostenlosen Weg zur Lösung langfristiger Herausforderungen statt als Hilfsmittel zur Steuerung der Nachfrage unter außergewöhnlichen Umständen zu betrachten.

Angesichts schwachen Wachstums, politischer Unzufriedenheit und großer vererbter Schuldenlasten kann die Option einer Finanzierung staatlicher Schulden über die Notenbanken kein Tabu sein. In Japan passiert das bereits dauerhaft, auch wenn die Notenbank es bestreitet. Die Herausforderung besteht darin, sicherzustellen, sie nur in Bereichen zu nutzen, wie Bernanke sie vorgeschlagen hat. Auf keinen Fall lässt sich so die Normalität der Zeit vor der Krise in näherer Zeit wieder einstellen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan / C Project Syndicate, 2019
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