Stephan Kaufmann

Wirtschaftsjournalist, Berlin

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Klimawandel, Digitalisierung, Handelskriege: Unsicherheit ist so groß wie nie

Bislang etablierte ökonomische Gesetze scheinen ihre Gültigkeit verloren zu haben. Ökonomen stellt sich das Problem, wie sie ihre Prognosen erstellen sollen.

Das Prognosewelle rollt: Banken und Wirtschaftsforscher legen ihre Erwartungen fürs neue Jahr vor. Doch Vorhersagen zu treffen ist derzeit besonders schwierig. Zum einen sind Wirtschaftsprognosen immer mit Risiken behaftet, die die Ökonomen über Wahrscheinlichkeiten zu quantifizieren suchen. Dazu kommen nun allerdings grundlegende Unsicherheiten, die man nicht mehr in Zahlen fassen kann: der Handelskrieg, der Klimawandel, die Digitalisierung - und die Tatsache, dass die Ökonomie nicht so zu funktionieren scheint, wie die Ökonomen bislang glaubten. „Die Alarmglocken klingen laut und deutlich", warnt Angel Gurría, Chef des Clubs der führenden Industrieländer, OECD.

Eines scheint derzeit sicher: Die Konjunktur wird in diesem Jahr schwach. Laut OECD sinkt das globale Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent 2019 auf 2,9 Prozent 2020. Das wäre der niedrigste Wert seit der Finanzkrise. Der Abschwung ist breit: Das Wachstum in den USA schrumpft auf zwei Prozent, das in der Euro-Zone auf etwa ein Prozent, und China muss sich auf Raten unter sechs Prozent einstellen.

Abschwünge an sich sind nicht besorgniserregend, sie kommen regelmäßig und gehen auch wieder. Dieses Mal jedoch scheint die Lage anders zu sein. „Es wäre ein Fehler zu glauben, das schwache Wachstum sei vorübergehenden Faktoren geschuldet und könnte mit geld- oder fiskalpolitischen Maßnahmen bekämpft werden", mahnt OECD-Chefvolkswirtin Laurence Boone. Die Probleme seien „strukturell", es drohe eine langfristige globale Wachstumsschwäche.

Weltwirtschaft: Die Ökonomen tappen im Zwielicht

Beunruhigt sind Ökonomen über das Tempo, in dem sich in den vergangenen Monaten das Konjunkturbild eingetrübt hat. So erwartete vor einem Jahr die Gemeinschaftsdiagnose führender Forschungsinstitute für Deutschland ein Wirtschaftswachstum von 1,9 Prozent, nun wird es wohl nur ein halbes Prozent. Anfang Januar rechneten Analysten damit, die Konzerne aus dem Deutschen Aktienindex würden ihre Gewinne 2019 um zehn Prozent steigern. Inzwischen sieht es nach einem Schrumpfen um fünf Prozent aus. „Was für ein Jahr!", kommentiert die Commerzbank.

Die Ökonomen tappen im Zwielicht. Konfrontiert sind sie zum einen mit dem politischen Risiko: Was kommt nach dem Brexit? Wie entwickelt sich der US-chinesische Handelskrieg, der „auf kurz oder lang wieder ausbrechen wird", so die Commerzbank. Wie geht der Streit zwischen den USA und der EU in Sachen Gaspipeline Nord Stream 2 weiter? Gegen welche Länder werden neue Zölle erhoben? All das ist derzeit nicht abzusehen, ebenso wenig wie die Entwicklung der sozialen Proteste in vielen Schwellenländern. „Die Unsicherheit bleibt hoch, sowohl mit Blick auf grundlegende geopolitische Entscheidungen und Gesetzgebungen als auch auf bevorstehende entscheidende Wahlen", konstatiert die Schweizer Bank UBS.

Diese Unsicherheit lastet auf den Investitionsentscheidungen der Unternehmen. Ihr gesamtes Geschäftsumfeld ist in Bewegung geraten. So ist unklar, wie die Politik auf den Klimawandel reagieren wird. Wie teuer werden CO2-Emissionen? Werden die für den Klimaschutz erforderlichen Investitionen getätigt? Und wer trägt den Schaden? Denn so viel ist sicher: „Klimaschutz bedeutet auch eine massive Kapitalentwertung ‚alter' Industrien", so die französische Bank Natixis.

Autoindustrie: Karten auf dem Weltmarkt werden neu gemischt

Sichtbar ist dies derzeit bereits bei der Elektrifizierung der Autoindustrie, die die Karten auf dem Weltmarkt neu mischt; ebenso bei der Digitalisierung, in deren Zuge ein Kampf um technologische Vorherrschaft zwischen den USA und China ausgebrochen ist. So beschränkt Washington chinesische Investitionen in amerikanische High-Tech-Sektoren, versperrt seinen Markt für chinesische Konzerne wie Huawei oder ZTE und drängt die Europäer, dem zu folgen. Alle drei Weltwirtschaftsmächte - die USA, China und die EU - ringen um „technologische und ökonomische Souveränität", so der Brüsseler Thinktank Bruegel.

Handels-, Investitions- und Technologiekrieg unterminieren die Kooperation der Weltwirtschaftsmächte und damit die Institutionen ihrer Zusammenarbeit. So steht die Welthandelsorganisation WTO durch die US-Blockadehaltung vor der Handlungsunfähigkeit. Dabei wäre Zusammenarbeit dringend nötig. „Ohne Kooperation in Handels- und Steuerfragen und ohne klare politische Vorgaben für den Übergang zu neuen Energien bleibt die Unsicherheit hoch und beschädigt die Wachstumsaussichten", erklärt OECD-Chefvolkswirtin Boone, und ihr Chef Gurría warnt vor einer „Zukunft niedrigen Wachstums und sinkender Lebensstandards".

In früheren Zeiten konnten sich die Industrieländer auf ihre Zentralbanken verlassen: Mit Zinssenkungen verbilligten sie Kredite und kurbelten so das Wachstum an. Doch in Zeiten von Null- und Niedrigzinsen „sind die Mittel der Notenbanken zunehmend erschöpft", erklärt Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank. Angesichts des fundamentalen Wandels der Weltwirtschaft liege es nun an den Regierungen, Impulse zu setzen. Das wird nicht einfach - auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass viele Länder noch große Schulden aus der vergangenen Krise geerbt haben und ihre Kooperationsbereitschaft gering ist.

Die Notenbanken können den Aufschwung nicht herbeihebeln

Die Notenbanken werden voraussichtlich auch im nächsten Jahr die Zinsen unten halten oder sogar senken und so eine neue Krise verhindern. Doch den Aufschwung können sie nicht herbeihebeln. Dass die mächtigsten Finanzinstitutionen der Welt in den vergangenen Jahren daran gescheitert sind, ihre Inflationsziele zu erreichen, führt unter Ökonomen schließlich zu einer Verunsicherung ganz grundsätzlicher Art: Bislang etablierte ökonomische Gesetze scheinen ihre Gültigkeit verloren zu haben.

So ging man lange von folgender Wirkungskette aus: Die Notenbank senkt die Zinsen, das verbilligt Kredite, daraus folgen höhere Investitionen, höherer Konsum und ein steigendes Bruttoinlandsprodukt. In der Folge sinkt die Arbeitslosigkeit, die Löhne steigen und damit die Inflationsrate, wobei gleichzeitig die Unternehmensgewinne zurückgehen.

Doch hat die Nullzinspolitik relativ geringe Auswirkungen auf die Kreditvergabe und Investitionen gehabt. Zwar ist die Arbeitslosigkeit drastisch gefallen, doch die Löhne haben nicht entsprechend zugelegt. Dafür schwimmen viele Unternehmen in Geld, ohne zu investieren. Im Ergebnis ist die Inflationsrate weiter niedrig, was inzwischen zur Debatte geführt hat, ob Zentralbanken überhaupt Inflationsziele festlegen sollen? „Die theoretischen Modelle der Folgen von Geldpolitik müssen tiefgreifend verändert werden", fordert Natixis.

Mit der Theorie sind auch eherne Politikprinzipien ins Wanken geraten. So soll ein Staat mit extrem niedriger Arbeitslosigkeit eigentlich nicht die Konjunktur stimulieren - doch die USA tun genau das, ohne dass die Inflation steigt. Eigentlich droht Staaten beim Überschreiten bestimmter Schuldengrenzen Gefahr - doch die USA, Japan und andere sind Gegenbeispiele. Eigentlich dürfen Zentralbanken nicht schrankenlos Finanzmittel in den Bankensektor pumpen - doch ist dies in den Industriestaaten inzwischen üblich.

„Die zentrale Frage lautet", so Natixis, „ob sich das ökonomische Umfeld so geändert hat, dass man die alten Prinzipien vergessen kann?" Diese Frage ist bislang unbeantwortet - und den Ökonomen stellt sich damit das Problem, auf Basis welcher Kausalketten sie nun ihre Prognosen erstellen sollen?

Zum 25. Geburtstag hätte die Welthandelsorganisation (WTO) gerne Grund zum Feiern - stattdessen steckt sie seit ein paar Wochen in der tiefsten Krise seit ihrer Gründung. Eine entscheidende WTO-Institution, die 25 Jahre Handelskriege verhindert hat, ist durch eine Blockade der USA lahmgelegt. Das Streitschlichtungsverfahren, auch „Kronjuwel der WTO" genannt, kann seit Dezember keine Handelsdispute mehr abschließend beilegen, weil von den sieben Berufungsrichter-Stellen nur noch eine besetzt ist. Nachbesetzungen verhindern die USA seit Jahren. Sie wollen so Reformen durchsetzen. Die Welthandelsorganisationwar am 1. Januar 1995 so gestartet: „Das Ziel ist sicherzustellen, dass der Handel so reibungslos, berechenbar und frei wie möglich läuft." Unter anderem handeln die Mitgliedsländer Regeln und Freihandelsabkommen aus. Die Organisation hat heute 164 Mitgliedsländer, die für 98 Prozent der Importe weltweit stehen. Die EU verhandelt in der WTO für alle Mitgliedsländer gemeinsam. (dpa)

Müssen die Bundesbürger mit einer Krise rechnen? Eher nicht. 2020 könnte vom Gehalt mehr Netto vom Brutto übrig bleiben. Der Ausblick für Arbeitnehmer, Azubis und Rentner.

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