Stephan Kaufmann

Wirtschaftsjournalist, Berlin

1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Das Lohn-Mysterium

Wer bekommt wie viel? Und wer hat was verdient? Ökonomen reimen sich auf diese Fragen die wildesten Antworten zusammen. Die Analyse.

Die große Ungleichheit der Einkommen ist ein heiß debattiertes Thema in Deutschland und anderenorts. Verteidiger der bestehenden Verteilungsverhältnisse führen für die Differenzen verschiedene Argumente auf. Dazu gehört zum Beispiel, dass Unterschiede im Einkommen die Menschen zur Leistung motivieren; und dass sich in den höheren Einkommen eine höhere Leistung der Beschäftigten widerspiegelt. Eine höhere Arbeitsleistung wiederum sei das Ergebnis einer besseren Bildung. Diese Argumentationskette ist jedoch brüchig.

Ökonomen gehen davon aus, dass eine bessere Qualifikation die Produktivität des Arbeitnehmers erhöht und er daher auch mehr verdient. Daher schlagen sie zum Beispiel Investitionen in frühkindliche Bildung vor, um das Wirtschaftswachstum und die Einkommen zu steigern.

Nun ist die Messung der Produktivität der Arbeit problematisch: Wie vergleicht man die Leistung einer Putzfrau mit der eines Schlossers? Oder die Leistung des Schlossers mit der eines Managers? Anhand der konkreten Arbeit sind derartige Vergleiche nicht möglich. Ökonomen behelfen sich daher damit, die Produktivität anhand von Finanzkennzahlen des Betriebs zu messen: Umsatz oder Gewinn je Beschäftigtem. Doch lässt sich so zwar die „Leistung" von Arbeitnehmern verschiedener Betriebe vergleichen. Nicht möglich allerdings ist es, Produktivitätsunterschiede von Beschäftigten innerhalb eines Unternehmens zu berechnen. Angenommen ein Betrieb mit 100 Angestellten macht eine Million Gewinn - wie viel davon kommt dem Pförtner zu gute und wie viel dem Manager? Das weiß niemand. Ökonomen behelfen sich daher mit einem weiteren Trick, der im Kern darauf hinausläuft, das Einkommen eines Beschäftigten als Ergebnis seiner Produktivität zu definieren, womit sich das gewünschte Ergebnis einstellt: der Lohn entspricht der Leistung.

„Kennen Sie den Witz über einen Ökonomen, der die Korrektheit seiner Theorie geprüft hat, indem er sie als korrekt definiert hat?", fragt der kanadische Wirtschaftswissenschaftler Blair Fix und fügt an: „Oh, ich vergaß, das ist kein Witz, sondern herrschende Praxis."

Nimmt man aber einmal an, die Produktivität bestimme tatsächlich die Lohnhöhe - was ist dann mit der Theorie, nach der der Bildungsgrad die Produktivität und damit das Einkommen bestimmt? Das Gegenargument liegt sofort auf der Hand: Würden auf einmal eine Million Menschen zu Herzchirurgen oder Atomphysikern ausgebildet, gäbe es noch immer nicht die entsprechenden gut bezahlten Arbeitsplätze. Eine gute Ausbildung muss zum Marktbedarf passen, stellt diesen Bedarf aber nicht her. Gestützt wird diese These auch durch das Ergebnis einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), nach der die Bundesbürger zwar immer besser qualifiziert sind, das Produktivitätswachstum aber sinkt.

Dass die Ausbildung die Produktivität bestimmt, sehen Ökonomen durch die Tatsache belegt, dass in der Regel die Hochqualifizierten die hohen Gehälter kassieren. Das ist zwar zutreffend. Ökonom Fix hat dafür aber eine andere, plausiblere Erklärung: Eine gute Qualifikation ist die bloße Zugangsvoraussetzung für die guten Jobs. Die Ausbildung erhöht also nicht die Produktivität des Arbeitnehmers, sondern dient als Sieb - nur wer sie erfolgreich durchläuft, hat eine Chance auf einen Top-Job.

Zum Original