In einem Bauernhof nahe Huai'an (Provinz Jiangsu, Ostchina) legt mir der Gastgeber mit seinen Stäbchen einen gebratenen Gänsefuß auf den Teller. Daheim würde mir eine solche Nötigung reichlich gegen den Strich gehen, in der chinesischen Provinz erkenne ich sie als höflichen Versuch der Zuwendung. Ich habe nichts gegen Gänsefüße und stecke mir eine Zehe nach der anderen in den Mund. Würde mir davor ekeln, dann stünde ich ebenso wenig vor einem Problem. Solange man irgendwie seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringt, ist es nicht unhöflich, angebotene Speisen abzulehnen. Entgegen einem beliebten westlichen Klischee essen Chinesen nämlich bei Weitem nicht alles und können bei der Auswahl ihrer Speisen durchaus anspruchsvoll sein. Bereits der große Konfuzius lehnte Fleisch ab, das nicht nach seinen Vorstellungen geschnitten war oder nicht mit der gewünschten Sauce zubereitet wurde. Feinschmecker haben also ein anerkanntes Vorbild.
Wem Essen auf den Teller gelegt wird und wer sein Glas nachgeschenkt bekommt, der sollte in Folge versuchen, von sich aus aktiv zu werden. Man könnte sich bei seinem Gastgeber bedanken, indem man ihm im Gegenzug ebenfalls eine Delikatesse auf den Teller legt. Den Gastgeber mit seinen eigenen Speisen zu versorgen mag aus westlicher Sicht skurril erscheinen, wird aber in China als freundliche Geste verstanden. Europäer empfinden dieses Hin und Her im gegenseitigen Bemühen manchmal als nervige Arbeit, aber da müssen sie durch. Alles andere wäre unhöflich.
Dieser Text ist eine stark gekürzte und bearbeitete Fassung eines Essays aus dem Buch "Die Kunst des höflichen Reisens. Gebrauchsanleitung für den gepflegten Umgang unterwegs". Acht Autoren, unter anderem Moritz Freiherr Knigge, begaben sich auf Reisen auf den Spuren der Höflichkeit und in dem Buch erzählen sie von ihren witzigen, kuriosen oder verblüffenden Erfahrungen mit den Kulturen dieser Welt. Erschienen im mvg Verlag.