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Trauer: Gestorben ohne Abschied

Viele Menschen ereilt der Tod unerwartet: bei einem Unfall, Schlaganfall oder Herzinfarkt, seit diesem Jahr auch bei einer Covid-19-Erkrankung. Für Angehörige ist das oft besonders schwer. Wie geht man damit um, wenn man sich nicht verabschieden konnte?

Die Nachricht kam unerwartet. Katharina Werles Vater sollte demnächst aus der Reha entlassen werden. Er hatte einen Herzinfarkt gehabt und war in der Stadt auf der Straße zusammengebrochen. Doch er erholte sich. Ihm gehe es besser, sagten die Ärzte. Gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Onkel und ihrer Tante wollte Werle ihn in der Reha besuchen. Ihre Mutter war zu Hause geblieben. Als die vier ankamen, war ihr Vater jedoch nirgends zu sehen. Stattdessen baten die Ärzte sie alle ins Nebenzimmer und sagten ihnen, dass der Vater vor wenigen Stunden an einem zweiten Herzinfarkt gestorben war.

"Meine Tante bekam einen Nervenzusammenbruch, mein Bruder und ich standen still in der Ecke. Wir konnten es nicht glauben", erinnert sich Werle. Sie bat darum, ihren Vater noch einmal sehen zu dürfen. Doch die Ärzte sagten ihr, das ginge nicht, er müsse noch in die Pathologie - und außerdem sei sie dafür zu jung. Das Gegenteil war der Fall: "Das war der Moment, in dem ich erwachsen wurde", sagt Werle rückblickend: Mit dem Tod ihres Vaters verschwand ihr persönlicher "Beschützer", die Person, die sie als Kind ins Bett brachte, ihr vorlas, bis sie einschlief, und sie in den Arm nahm, wenn es ihr schlecht ging. Werle war damals 16 Jahre alt. Dass sie sich nicht verabschieden konnte, machte ihr zu schaffen.

Heute ist Katharina Werle 53 Jahre alt und selbst Mutter von zwei Kindern. Ihre Geschichte steht exemplarisch für die von Tausenden Angehörigen. Jahr für Jahr sterben in Deutschland mehr als 930 000 Menschen. Die Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen: Ein großer Teil der Tode ereignet sich plötzlich. Zu den häufigsten Todesursachen gehören Erkrankungen des Kreislaufsystems, darunter der Herzinfarkt. Bei den 18- und 19-Jährigen stirbt jeder dritte durch einen Unfall. In der Corona-Pandemie steigt die Zahl der Sterbenden, die keinen Abschied nehmen können, weil niemand mehr zu ihnen darf oder weil keine Zeit mehr bleibt, bevor sie ins künstliche Koma versetzt und beatmet werden.

Zurück bleiben ihre Familien, ihre Freunde und Freundinnen. Sie alle stehen vor der Frage: Wie verarbeitet man den Verlust eines geliebten Menschen - besonders, wenn man sich nicht verabschieden konnte? Wie kann das Leben danach weitergehen? (...)


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