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Die Neuvermessung der Welt - Wie Daten unser Leben bestimmen werden

Ob wir joggen, die Heizung aufdrehen oder das Erdbeerfeld wässern - was wir auch tun, wir messen es. Und immer entstehen dabei Daten, die von Konzernen und Regierungen ausgewertet werden. Aber wozu überhaupt? Wem nützen diese Informationen? Und was macht das mit uns?


Vor knapp zehn Jahren war Florian Schumacher Teil der Zukunft. Damals war gerade das erste iPhone erschienen und für Schumacher war es ein Startschuss: Er fing an, Schritte zu zählen, maß sein Wohlbefinden, später ließ er Blut, Speichel und Stoffwechsel testen. Das Ziel: ein gesünderes, leistungsfähigeres Leben. Projektarbeit am Ich.


Damit war Schumacher Teil einer kleinen, aber weltweiten Bewegung. Ihr gehörten mehrheitlich Männer an, die ihr Leben als eine Reihe von Zahlen verstanden. Der eigene Körper war das Experimentierfeld, das Ziel einer Expedition ins Unbekannte ausgerüstet mit Smartphone, Fitness-Armbändern und Gentests.


Namen hatte der Trend viele: Selftracking, Selbstvermessung, Lifelogging oder Quantified Self. Zu einer Massenbewegung ist er nicht geworden. Beendet ist die Jagd nach Daten aber nicht - im Gegenteil: Alles wird erfasst, gezählt und dokumentiert. Von Smartwatches, Fitnesstrackern, Gesundheits-Apps. Von Regierungen, von Amazon und Google. Von uns selbst. Die Welt - und mit ihr das Ich - wird neu vermessen.

„Das ist die Grundierung unserer Kultur", sagt Stefan Selke über das ständige Zählen und Erfassen. Der Soziologe ist Professor für „Gesellschaftlichen Wandel" an der Hochschule Furtwangen und forscht zu Selbst- und Fremdvermessung. Er warnt: „Der soziale Blick auf uns selbst und andere verändert sich gerade."


Selke beobachtet, wie die Welt verflacht und Vielfalt eingedampft wird: Es werde versucht, alles in Zahlen auszudrücken, Algorithmen sollten menschliche Urteile ersetzen. Für ihn ist es auch eine Indexierung der Welt: „Erhobene Daten werden zu einem Index verdichtet, Menschen wird ein Wert zugeordnet." Mit schwerwiegenden Folgen: „Wir entfernen uns immer weiter vom humanistischen Menschenbild", sagt Selke. Menschen würden zunehmend als numerische Umrisse wahrgenommen. Die Welt als Zahlenraum, der algorithmische Mensch - Selke will keine Dystopie zeichnen, aber sieht doch einen Trend mit „leicht dystopischem Charakter".


Auch die Psychologin Vivien Suchert beobachtet, dass alles in Zahlen gefasst wird - nicht zuletzt von uns selbst - und erkennt darin einen Versuch, „den fehlerhaften Menschen hinter sich zu lassen". Davon profitieren vor allem Unternehmen und Regierungen: „Ausgehend von unserem Onlineverhalten kann ein digitales Bild von uns gezeichnet werden." Dank dieses Bildes kennen Händler oder Versicherer ihre potenziellen Kunden genau. Ein Beispiel: Für ihr Buch „Die Daten, die ich rief" fragte die Netzaktivistin Katharina Nocun ihre Daten bei Amazon ab. Der Internetgigant schickte ihr eine Liste mit dem Nutzungsverhalten von 14 Monaten. Der Umfang war gewaltig: 15 356 Zeilen und mehr als 50 Spalten. „Jeder Klick war erfasst worden", schreibt Nocun auf ihrem Blog.


Die Folgen: Werbung und Angebote werden individualisiert. Wer heute Sportschuhe einer bestimmten Marke googelt, sieht morgen individuelle Anzeigen dieser Schuhe bei Facebook oder Instagram. Vorlieben, Abneigungen, Beruf und Beziehungsstatus - die Daten legen es offen.


Und die Datenberge wachsen weiter. Das statistische Bundesamt erwartet, dass das Volumen der jährlich generierten digitalen Datenmenge weltweit rasant steigen wird: Von 33 Zettabyte im Jahr 2018 auf 175 Zettabyte 2025. Zum Vergleich: Würde man die geschätzte Menge aller jemals gesprochenen Worte digitalisieren, wären das 42 Zettabyte. Das ist das Ergebnis einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2009. Zahlen, die das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen.


Mehr Daten von allem - ihre Ausbeutung ist politisch gewollt: „Im digitalen Zeitalter sind Daten eine Schlüsselressource", schreibt die Bundesregierung im Eckpunkte-Papier ihrer Datenstrategie vor wenigen Monaten. Daten sollen Wohlstand sichern, die Wirtschaft ankurbeln, den wissenschaftlichen Fortschritt vorantreiben und staatliches Handeln leiten - so will es Berlin und ruft das „Datenzeitalter" aus.


In China versucht der Staat seine Bürgerinnen und Bürger zu bewerten

Das weckt Begehrlichkeiten: Insbesondere Polizeibehörden hätten gerne Zugriff auf die wachsenden Datenmengen. In Deutschland setzt beispielsweise die hessische Polizei auf die umstrittene Analysesoftware „Gotham" des US-Unternehmens Palantir (die FR berichtete) - etwa, um Terroranschläge zu verhindern. Die Software strukturiert, verknüpft und analysiert riesige Mengen unterschiedlicher Daten. Wie sie im Detail funktioniert, ist aber unklar.


Auch andere Länder sehen in Daten eine wichtige Ressource - allen voran China. Das Land der Mitte sammelt massenhaft Daten über seine Bürgerinnen und Bürger und baut ein Scoringsystem auf: Künftig sollen Algorithmen Informationen aus staatlichen und privaten Datenbanken auswerten. Damit kann der Staat seine Bürger bewerten und Risikoprofile erstellen. Regelkonformes Verhalten wird mit einer guten Bewertung belohnt, wer dagegen bei Rot über die Ampel geht, verliert Punkte - und womöglich das Recht, ins Ausland zu reisen.


Zuletzt war eine weitere Dimension des chinesischen Überwachungsprogramms bekannt geworden: Die Behörden der Volksrepublik hatten vor knapp zwei Jahren begonnen, DNA-Proben ihrer männlichen Bevölkerung zu sammeln. Das Ziel: eine genetische Landkarte. Wer ist mit wem verwandt? Zum wem gehört das Haar, die Hautschuppe oder das Blut an einem Tatort? Künftig sollen solche Fragen leicht zu beantworten sein.


Die vielen Daten ermöglichen neue Chancen: in der Landwirtschaft oder beim Bauen

Doch nicht auf allen Feldern ist die Vernetzung bedrohlich. Auf den Feldern der Landwirte etwa versprechen Sensoren Schutz vor Staunässe, Frost oder Hitze: Die Bäuerin schaut nicht mehr in den Himmel, sondern auf ihr Smartphone, wenn sie darüber nachdenkt, ob und wie viel gegossen werden sollte. Anbieter wie Bosch sammeln Wetterdaten und Feuchtigkeitswerte, die sie mit Modellen für Pflanzenwachstum kombinieren. Auf dem Smartphone sieht das dann so aus: Freilanderdbeere im Makrostadium der Fruchtreife, Mehrzahl der Früchte ausgefärbt, Umgebungstemperatur 4,1 Grad Celcius bei 78,7 Prozent Feuchtigkeit. Natürlich inklusive bunter Grafiken, Durchschnittswerten und einer Alarmfunktion.


Nur ein Beispiel von vielen: Fußballspiele produzieren lange Zahlenreihen, die längst über Tore, Vorlagen oder die Menge der roten Karten hinausgehen: Wo findet sich Spieler A wann? Welchen Puls hat Spielerin B nach dem Sprint zur Grundlinie? Wie wahrscheinlich führt Spielzug C zum Torerfolg? Das Büro wird smart, der Aufzug intelligent - Sensoren ermitteln die Belegung von Räumen, den Energieverbrauch oder die Abnutzung von Bauteilen. Ein Kreislauf aus Messen, Interpretieren und Optimieren.

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Mit den wachsenden Datenmengen nimmt die Neuvermessung der Welt zwar an Fahrt auf. Die Entwicklung aber gibt es schon länger: Bereits im September 1958 diskutierten Philosophen, Soziologen und Politikwissenschaftler während der Darmstädter Gespräche die Frage: „Ist der Mensch messbar?".


Für Stefan Selke ist die Digitalisierung deshalb nur ein Symptom, nicht aber die Ursache. Der Soziologe sieht den Neoliberalismus am Werk - und das seit Jahrzehnten. Leistungsdenken, Fokus auf Effizienz und Kosten-Nutzen-Analysen als „Triumph des neoliberalen Denkens im Alltag". Auch für die Psychologin Suchert ist die Leistungsgesellschaft ein Auslöser für die zunehmende Selbst- und Fremdvermessung: „Heute muss jeder darauf achten, dass er oder sie gute Leistungen bringt." Wer nicht gut genug sei, dem drohten Nachteile bis hin zum Jobverlust.


Die Folgen: Stress, ständige Unsicherheit und Gefühle der Entfremdung. Dagegen rät Suchert zu einem Mittelweg. Sie nennt es „Zahlenminimalismus": Nur so viele Daten wie nötig, dafür mehr Wissen über Hintergründe und Zusammenhänge.


Florian Schumacher praktiziert es anders: Mit mehr als 200 vernetzten Geräten sei seine Wohnung gefüllt, erzählt der Münchner. Viele Daten sammelt Schumacher automatisiert, „auf Vorrat", also ohne dass er die Daten tatsächlich nutzen würde. Zum Beispiel misst er, wie sich die Luftqualität in seiner Wohnung entwickelt, oder erfasst, welche Webseiten er besucht - bis hin zu den einzelnen Tastaturanschlägen. „Manche dieser Daten helfen Rückschlüsse auf meine Produktivität zu ziehen, ich sammle die Daten aber auch für zukünftige Analysen - etwa meines Kommunikationsverhaltens und anderer Aspekte - ohne eine konkrete Zweckbindung bei der Sammlung der Daten vorauszusetzen."


Hin und wieder führt Schumacher kleinere Tests an sich selbst durch: Nimmt er genügend Vitamin B 12 zu sich? Wie steht es um die Fettsäuren in den Lebensmitteln, die er isst? Ein Spiel sei das, sagt Schumacher, ein Spiel, das ihm helfe, Dinge zu verstehen. Aber: „Das Leben ist multifaktoriell." Schumacher kennt die Kritik an übermäßiger Datengläubigkeit. Er weiß, dass sich nicht alles in Zahlen erfassen lässt. Und hegt doch große Hoffnungen: Datensammeln, Selbstvermessung - „das ermöglicht eine neue Medizin", sagt Schumacher, der selbst Unternehmen zu digitalen Gesundheitslösungen berät.


Schon jetzt warnen manche Armbänder ihren Träger vor gesundheitlichen Problemen wie einem Vorhofflimmern. Künftig könnten Medikamente und Therapien für jeden Patienten individuell entworfen werden - auf Grundlage der jeweiligen Gesundheitsdaten. Das Versprechen: Mehr Daten, mehr Wissen, mehr Gesundheit.

Und eben auch: weniger Kosten - für das Gesundheitssystem, vor allem aber für jeden einzelnen Menschen. Die Idee: Eine gesunde Lebensführung könnte mit niedrigeren Versicherungsbeiträgen belohnt werden. Schon jetzt bieten viele Krankenkassen Apps an, mit denen die Versicherten Bonuspunkte für eine gesunde Mahlzeit, die tägliche Meditation oder 10 000 Schritte pro Tag sammeln. Die Bonuspunkte werden später gegen Einkaufsgutscheine oder andere Prämien eingetauscht.


Klingt verlockend, aber: „Das kann richtig nach hinten losgehen", warnt Psychologin Suchert. Sie fürchtet, dass neue Konflikte um Schuld und Verantwortung entstehen: Wer durch seine ungesunde Lebensweise den Ausbruch einer Krankheit begünstige, dem werde auch die Schuld daran zugeschrieben. Die Folge könne eine Entsolidarisierung des Gesundheitssystems sein, sagt Suchert: „Dann wollen die anderen nicht mehr zahlen."

Eine weitere Gefahr sieht Stefan Selke - die einer „rationalen Diskriminierung". Damit meint er, dass vermeintlich objektive Daten erhoben werden, auf deren Grundlage dann vermeintlich rationale Entscheidungen getroffen werden: A zahlt niedrigere Versicherungsbeiträge als B, weil A einen besseren Score hat. Tatsächlich ergebe das neue Sortierungsmöglichkeiten und damit eine „neue digitale Spaltung", so Selke. Mit digitalen Versagern und Gewinnern.


Technologien sind nicht per se objektiv, Daten können täuschen - oder sogar schaden

Klagen über rassistische oder frauenfeindliche Datensätze gibt es schon lange - insbesondere aus den USA. Dort hatten Aktivisten immer wieder „programmierten Rassismus" angeprangert: So betitelte eine Software von Google das Foto einer Afroamerikanerin mit „Gorilla". Für eine andere Software war die dunkle Hautfarbe von Straftätern ein wichtiges Merkmal zur Einschätzung, ob jemand wieder straffällig wird oder nicht.


Technologien seien eben nicht per se neutral oder objektiv, hieß es in einer Studie des Europäischen Netzwerk gegen Rassismus vor wenigen Monaten. Stattdessen könnten sie bestehende Ungerechtigkeiten im Justizsystem vertiefen.

Viele Beobachter fordern deshalb, dass Technik und Daten den Menschen dienen müssten. Das sieht auch Daniel Gyamerah vom Berliner Think-Tank „Citizens For Europe" so. Er sagt: „Daten sind ein wichtiges Werkzeug für sozialen Wandel." Mit sogenannten Gleichstellungsdaten kämpfen Gyamerah und seine Kolleginnen gegen Diskriminierung und für Gleichstellung in Organisationen. Unternehmen und Behörden sollen fairer, gerechter werden. Das Motto: „Vielfalt entscheidet - Diversity in Leadership".


Und so funktioniert es: Gyamerahs Team hilft einer Behörde oder einem Unternehmen dabei, Daten zu erheben. Diese Daten werden dann mit Blick auf strukturelle Benachteiligungen analysiert - zum Beispiel in Bezug auf Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe. Dabei orientieren sie sich am Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das in Paragraph 1 als Ziel formuliert, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen".


Gyamerah weiß aber auch: Datenerhebung allein ist nicht alles: „Es braucht immer auch Menschen, die mit den Daten aktiv werden und den Wandel vorantreiben." Gemeinsam mit Fachpersonal aus Unternehmen und Behörden arbeiten Gyamerah und sein Team deswegen an positiven Strukturen, die Ungerechtigkeiten abbauen sollen. Daten für gleiche Chancen also.


Dass das Aufzeigen von Diskriminierung funktioniert, zeigt das Buch „Unsichtbare Frauen" von Caroline Criado-Perez. Darin beschreibt die Britin anhand von Daten, wie Frauen strukturell benachteiligt und unsichtbar gemacht werden. Nur ein Beispiel von vielen: Die Tasten eines Standard-Klaviers sind für die durchschnittliche Männerhand entwickelt worden und benachteiligen 87 Prozent der Pianistinnen. Gleichzeitig macht Criado-Perez deutlich, was eine wichtige Grundlage der Diskriminierung ist: Dass unsere Welt größtenteils auf männerbezogenen Daten basiert.


Und der Einfluss der Daten auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wird wohl nicht abnehmen. Im Gegenteil: Die Vermessung der Welt geht weiter - Ausgang offen. Aber: „Messen ist das eine, verstehen das andere", sagt Florian Schumacher. Ein Satz, dem auch Vivien Suchert und Stefan Selke zustimmen. Alle drei - Selbstvermesser, Psychologin und Soziologe - plädieren dafür, den Blick zu weiten. Zahlen auch mal Zahlen sein zu lassen. Denn: „Im Innersten des Menschen" sagt Stefan Selke, „muss es etwas geben, das intransparent bleibt."

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