Steffen Greiner

Redakteur & freier Journalist, Berlin

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Reportage

Die Epilog #7: Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm

Ihren stolzesten Moment erlebte die Zentrumspartei am 25. Juni 1922, am Tag nach dem Mord am liberalen Außenminister der Republik, Walter Rathenau, der von Mitgliedern einer rechtsterroristischen Vereinigung erschossen worden war. Joseph Wirth, Anführer des linken Flügels der Partei, 1921 mit 41 Jahren zum jüngsten Kanzler der deutschen Geschichte gewählt, trat an diesem Tag vor den Deutschen Reichstag, um nicht nur die Tat zu verurteilen, sondern auch seine Abscheu vor den Tätern kundzutun. „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt“, sagte er. „Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts.“ Kein Auschwitz und kein NSU hat daran etwas geändert, dass das so deutlich nie wieder von deutschen Polit-Granden gesagt worden ist.
Einen weniger stolzen Moment erlebte die Zentrumspartei im Oktober 2017, als sie in München gegen eine Klinik für Schwangerschaftsabbrüche protestierte: mit einem Flyer, der blutverschmierte tote Föten als Pizzabelag zeigte, verteilt in Briefkästen in der ganzen Stadt, „Kinderschlachtung im Akkord“ etc. Kurz darauf erhielt der Parteivorsitzende, dessen Wohnadresse in Dormagen zugleich Parteizentrale ist, der 90-jährige Georg Woitzik, nach einem Bericht des +Neumarkt Journal. Magazin für Politik, Kultur & Ästhetik in Kaarst+ Morddrohungen von unbekannt. Vermutlich von „Kommunisten und Satanisten“, wie der Generalsekretär der Partei, Christian Otte, dem Online-Magazin mitteilte, und ja, er sagt „Kommunisten und Satanisten“, als wäre Deutschland noch immer im populären Diskurs des Jahres 1993 gefangen, wo alte Stasi-Kader im Untergrund der neuen Republik Fäden zogen und gruselige Satanssekten mit als Bonbons getarnten Drogen und umgedrehten Kreuzen Kinder gefügig machten. Als gäbe es keine guten Gründe, Abtreibung straffrei zu halten, wie das der Gesetzgeber im Moment so hält. Oder gar dafür, sie endlich zu legalisieren. „Einzige Pro-Life-Partei Deutschlands“, so zieht das Zentrum zur Zeit in die Wahlkämpfe.
Alles um diese Partei ist grau. Es ist das Grau der BRD, die da, wo das Zentrum steckt, noch Bonner Republik ist: Cloppenburg, Neuss, Molbergen. Das Zentrum stellt gerade zwei Kreistagsabgeordnete und sechs Abgeordnete in vier Stadtparlamenten. Christian Otte ist einer davon, der Generalsekretär ist Stadtrat im nordrhein-westfälischen Kaarst, gut 30 Kilometer nördlich von Köln gelegen, wo er ursprünglich Teil einer Fraktion aus drei Zentrum-Mitgliedern war – seine Kollegen traten 2015 aus der Partei aus, um eine neue Fraktion zu gründen, die Freie Wählergemeinschaft Kaarst.
Ein weiterer Grund für ihren Austritt ist das Chaos, das innerhalb der Partei herrscht. Im Zentrum des Sturms ist Partei-Patriarch Woitzik. Er strengte ein Ausschlussverfahren gegen den früheren Fraktionsvorsitzenden Josef Karis an, weil der Woitziks Wunschkandidaten bei der Landratswahl, Adolf Pamatat, nicht ausreichend unterstützte. Karis hingegen wirft Otte wiederum vor, „sich zu sehr in den Bürgermeisterwahlkampf des Neusser Zentrumskandidaten Klaus Brall eingemischt zu haben. Brall, sagt Karis, habe sich im Vorfeld der Wahl öffentlich deutlich zu weit rechts orientiert und Otte sei für diese Äußerungen mit verantwortlich gewesen. Otte“, so der Bericht der +Neuß-Grevenbroicher Zeitung+, „streitet das ab und wirft Karis seinerseits vor, eine rein persönliche ‚offene Rechnung‘ mit Brall zu haben.“ Seitdem sitzt Otte in einer Zwei-Mann-Fraktion mit dem einzigen Abgeordneten der AfD und bastelt vermutlich weiter an seinem Kaarster Kartenhaus ohne Damen.
Wir sprechen hier von einer Partei, die fünf Reichskanzler stellte. Das Zentrum, der politische Arm des Katholizismus, entstand 1870 unter dem Druck des bismarck’schen Kulturkampfes, der alle Katholiken zu Feinden des Reichs erklärte. Das führte bei den Reichstagswahlen 1874 quasi aus dem Stand zu 28,9 Prozent der Stimmen – und dank der Anschlussfähigkeit nach rechts und links fast immer zur Regierungsbeteiligung in der Weimarer Republik. Das Zentrum war sozialliberal und erzkonservativ zugleich, mal setzte sich der eine Flügel durch, mal der andere. Das Zentrum war so etwas wie die CDU von Weimar – und ohne die CDU wäre es das vielleicht auch für die Bundesrepublik geworden. Die Zeitläufte sprachen dagegen.
Konrad Adenauer, der 1917 bis 1933 für das Zentrum Kölner Oberbürgermeister war, ging nach dem Krieg zur Christlich-Demokratischen Partei, aus der heraus er später die CDU mitbegründete. Dem Zentrum, das noch 1945 den ersten Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen stellte, bot er immerhin im zweiten Bundestag eine Aufnahme in die Regierungskoalition an. Die aus zwei Abgeordneten bestehende Fraktion der damals wieder eher links stehenden Partei lehnte dankend ab und wurde nach 1957 nicht mehr in der Nähe des Bundestages gesehen.
„Mit einer (damals noch) christlich-sozial aufgestellten Union, einer sozial-konservativen SPD und nicht zuletzt einer nationalliberal gesinnten FDP schwand einfach der Bedarf für eine weitere Partei dieses Angebots – ganz anders als heute, da all die vorgenannten Parteien den ‚Linksschwenk marsch!‘ vollzogen und das christliche Kulturerbe für irrelevant erklärt haben, und zudem den Kultur- und Medienmarxismus nicht mehr als ideellen Widerpart begreifen, sondern eher als etwas eigenartiger, aber doch im Zweifel als Verbündeter anzusprechender Mitspieler auf dem politischen Feld. Hier wirkt sich das Fehlen der Deutschen Zentrumspartei in der politischen Relevanzsphäre verheerend aus”, steht vor wenigen Wochen in einer Mail aus Agadir, Marokko. [...]