Statistisch gesehen, hätte ich schon mehr als zwei Dutzend Mal sterben können. Ich habe eine Herzrhythmusstörung, die erst vor drei Jahren erkannt wurde. Anfangs dachten die Ärzte, ich hätte Epilepsie. Seitdem ich zwölf war, habe ich mit dieser Fehldiagnose gelebt. Die Krankheit wurde zum Teil meiner Identität, die wiederkehrenden Anfälle wurden mein Alltag. 25 von ihnen sind durch Arztbriefe bestätigt worden. Vermutlich waren es noch viel mehr.
Ich kann mich auch ohne Dokumente an die meisten davon erinnern. Diese Momente, in denen mein Körper mich überfallen hat, sind immer einschneidend gewesen. Einmal habe ich bei meiner Tante übernachtet; bei einem anderen Anfall reiste ich gerade durch Bolivien. Ein anderes Mal habe ich ein Praktikum in München gemacht. Als ein Kollege in mein Büro kam, erschrak ich und verlor das Bewusstsein.
Damals hatte ich keine Ahnung, was die Anfälle ausgelöst hat. Heute verstehe ich, was passiert ist, und dass ich nie Epilepsie hatte. La Paz etwa liegt auf 3500 Metern, Höhe ist für das Herz nicht gut. Und Schreck bringt es aus dem Rhythmus. Deswegen habe ich mittlerweile keinen Wecker, der laut bimmelt, sondern eine Smartwatch, die mich sanft mit Vibration aus dem Schlaf holt.
Ich habe Glück, dass ich noch lebe. Eine Ärztin fand meine Anfälle komisch und ließ mich durchchecken. Ich bekam die richtige Diagnose gestellt und einen Defibrillator eingesetzt. Er erinnert mich regelmäßig daran, dass ich sterblich bin. Ich habe schon öfter mitbekommen, dass Menschen ihrem Defibrillator einen Namen gegeben haben. Mein Freund hat meinen Ronin getauft. Er meint, das klingt wie ein Krieger, einer, der für mich kämpft, wenn mein Herz nicht von allein im richtigen Takt pocht.
Wenn ich eine Stimulation vom Defibrillator bekomme, dann fühlt es sich an, als würde jemand mein Herz anschnipsen. Das kann im Supermarkt sein oder am Abend auf dem Sofa. Die Endlichkeit des Lebens ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Dabei ist es eine Sache, die sicher ist, bei all den anderen Unsicherheiten. Ich versuche, mein Leben bewusst zu gestalten. Sprüche wie "Lebe deinen Tag, als ob es dein letzter wäre" finde ich nur bedingt hilfreich. Würden sich alle daran halten, dann würde niemand mehr eine Steuererklärung machen oder das Klo putzen. Ich habe nicht sofort alles umgekrempelt, sondern kleine Veränderungen vorgenommen. Schritt für Schritt habe ich mir meinen Traum erfüllt, als Autorin zu arbeiten, und vor Kurzem ein Buch über meine neue Lebensweise veröffentlicht. Jetzt schreibe ich gerade an meinem zweiten Roman.